Francis Owakah ist ein viel beschäftigter Mann. Es ist acht Uhr morgens, in zwei Stunden trifft der Dozent für Philosophie die Mitherausgeber des Journals „Thought and Practice“, danach hält er ein Logik-Seminar am Philosophieinstitut der Universität Nairobi. Gemeinsam mit seinem Kollegen Oriare Nyarwath will er das einst international berühmte Philosophiejournal wiederbeleben. Owakah muss noch einige Beiträge redigieren, nächste Woche soll das Heft in Druck gehen. Er steht merklich unter Zeitdruck. Er spricht schnell, als hoffe er damit, Zeit zu gewinnen. Gespannt auf die Fragen ist er aber doch: Journalistischem Interesse an Philosophie in Afrika begegnet er selten.
In Nairobi wird Philosophie seit 1969 gelehrt, dem Gründungsjahr der Hochschule. „Damals handelte es sich eher um einen Mix aus Religion, Kultur und Philosophie“, erklärt er. „Die vom Westen über Jahrhunderte konstruierten Bilder von Afrika und seinen Menschen haben zu dieser Verwirrung geführt. Doch es gibt nichts Exotisches an Philosophie in Afrika.“ Philosophie sei eine Wissenschaft mit einer bestimmten Methodik und Fragestellung. „Das ist in Afrika nicht anders als in Europa“, sagt Owakah.
Der Philosoph wuchs in der Nähe des Viktoriasees auf, wo die Mehrheit der Leute vom Fischfang lebt. Als einer der besten seiner Schulklasse qualifizierte sich Owakah für ein staatliches Stipendium. Mit einem Philosophiestudium wollte er seinen Wissensdurst stillen. „Meine Eltern waren dagegen. Sie wollten, dass ich gleich arbeite. Sie hatten Angst, ich würde mir mit meinem kritischen Geist nur selbst im Wege stehen.“ Er setzte sich durch. Seit über 15 Jahren lehrt er nun als Dozent an der Universität Nairobi.
Nach der Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten entstanden schnell Philosophie-Institute an den Universitäten. In den wissenschaftlichen Diskursen ging es um die Rechtfertigung und Definition von Philosophie in Afrika. Es entwickelte sich eine Wissenschaft, die später als Ethnophilosophie bezeichnet wurde. Man suchte nach etwas Einzigartigem innerhalb der afrikanischen Philosophie. „Es war eine Verwechslung von Mythen, Legenden und Kultur mit Philosophie“, erläutert Owakah. Ihren Höhepunkt fand die Ethnophilosophie zwischen 1960 und 1980. Viele afrikanische PhilosophInnen kämpften seitdem gegen Ethnophilosophie an und entlarvten in ihren Arbeiten die methodischen Schwächen dieser Richtung.
Für Jeremiah Waweru gibt es keine afrikanische oder europäische Philosophie: „Es geht um Ideen: Man sieht sie an, prüft sie, einige lehnt man ab, andere übernimmt man. Das war schon immer so, in Europa und in Afrika.“ Der 22-jährige Student hat Bücher des deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel gelesen: „Hegel verweigerte ganz Afrika die Fähigkeit zur Vernunft, und damit auch die Möglichkeit jeglicher Existenz von Philosophie“, sagt er und sein Gesicht verrät, dass es ihm schwerfällt, diese Behauptungen nachzuvollziehen.
Während der europäischen Aufklärung wurde die Vernunft zum Maß aller Dinge erklärt. Völker wurden anhand ihrer angeblichen Fähigkeit zum rationalen Denken hierarchisch geordnet. Der Europäer stand ganz oben, gefolgt von Menschen aus Asien, das Schlusslicht bildeten die BewohnerInnen Afrikas und die indigene Bevölkerung der „Neuen Welt“. Nach dieser Theorie ist Philosophie, eine Disziplin, die auf kritischem Denken beruht, für AfrikanerInnen unmöglich. Hegel und Immanuel Kant waren nur die berühmtesten Vertreter dieser Denkschule.
Für Jeremiahs Kommilitonen William Wamaru ist die Art und Weise, wie Afrika heute in den internationalen Medien dargestellt wird, ein Kontinuum dieses kolonial geschaffenen Afrikabildes. „Uns könnte das eigentlich egal sein, denn wir wissen ja, wie wir sind“, sagt er. Halte man sich jedoch die materiellen Unterschiede beider Kontinente vor Augen sowie die Ungerechtigkeiten, die sich im Laufe der Geschichte ereigneten, würde klar, dass diese konstruierten Bilder reale Auswirkungen haben. „Eigentlich gibt es die Unterschiede doch nur in technologischer Hinsicht und nicht im Intellekt. Das sollte den Menschen bewusst gemacht werden, und auch welche Gründe die Unterschiede haben.“
Die Philosophie in Afrika hat sich lange genug mit ihrer eigenen Rehabilitation beschäftigt, befindet Dozent Owakah. „Bis heute leiden beide Seiten unter den psychologischen Folgen der Kolonialzeit. Afrika unter einem Unterlegenheitskomplex und Europa an einem Überlegenheitskomplex“, konstatiert er. „Aber die Philosophie kann diese destruktiven Denkmuster durchbrechen, indem sie das kritische Denken schult“, sagt Owakah und fährt fort: „Philosophie sollte ein Schulfach sein. SchülerInnen müssen angeregt werden, kritische Fragen zu stellen. Nur so kann sich eine kritische Masse entwickeln, die radikale Veränderungen herbeiführt.“
Bei der Anzahl der Philosophie-Studierenden an der Universität Nairobi kann man nicht wirklich von einer Masse sprechen. Bis Ende der 1990er Jahre begannen in Nairobi noch etwa 100 Studierende jährlich ein Philosophiestudium. Heute sind es im Schnitt noch dreißig. Das weltweit sinkende Ansehen der Geisteswissenschaften hat auch Kenia getroffen. Gerade noch sechs Studierende absolvieren zurzeit das dritte Universitätsjahr.
Unter ihnen Jeremiah und William. Schon als Halbwüchsiger las William in der Bibliothek seiner Schule sämtliche Bücher zu Geschichte, Religion, Literatur und Philosophie, die ihm die vielen Ungerechtigkeiten im Laufe der Geschichte vor Augen führten. Sein Wunsch nach Gerechtigkeit führte ihn fast zu einem Jusstudium. William wollte für Minderheiten und gegen Ungerechtigkeit kämpfen und er wollte die Menschen verstehen, um ein guter Anwalt zu werden. Dann die Ernüchterung: „Als Anwalt geht es eher darum, ein großes Unternehmen vor Gericht zu verteidigen. Das wollte ich nicht.“
Oft sind es die Widersprüche des Lebens, die zum Studium der Philosophie führen. So auch beim Dozenten Oriare Nyarwath. Der heute 45-Jährige fiel schon zu Schulzeiten in der Religionsstunde durch kritische Fragen unangenehm auf. Als Kind bereits missfiel ihm die Kluft zwischen dem, was er in der Bibel las und dem, was er in der Kirche sah. Ein Verkehrsunfall in der Nähe seines Dorfes, bei dem drei junge Menschen starben, hinterließ bei ihm Spuren. „Mir wurde die Leere des menschlichen Lebens bewusst.“
Nyarwath hat eine eindringliche Art zu sprechen, man merkt ihm seine Erfahrung als Lehrender an. Er spricht sicher, trägt seine Argumente gelassen und pointiert vor. Gerne macht er eine längere Pause, bevor er weiter spricht. Dabei entschlüpft ihm von Zeit zu Zeit ein Lachen.
In seiner Doktorarbeit „Das Recht des Menschen auf ein Minimum“ fordert Nyarwath eine Überprüfung des internationalen Rechts: „Wir brauchen eine globale Gerechtigkeit, die untersucht, wie die Rohstoffe der Welt von allen WeltbürgerInnen verwendet werden könnten.“ Dies sei weder Kommunismus noch Utopie, nimmt er die Kritik vorweg. „Es ist bewiesen, dass die Welt reich genug ist, um es sich leisten zu können, allen BürgerInnen diese Garantie auf Freiheit zu gewährleisten.“ Solange dieses Minimum nicht garantiert wird, seien alle Gespräche über soziale Gerechtigkeit oder Freiheit leeres Gerede. Es gehe nicht um Entwicklungshilfe, denn auch dahinter verberge sich der westliche Überlegenheitskomplex. Es gehe auch nicht um Reparationsleistungen, auf die viele ehemalige Kolonien durchaus einen Anspruch hätten. „Denn wir wollen uns ja nicht ewig mit der Vergangenheit beschäftigen“, sagt Nyarwath „wir wollen uns zu einer Welt entwickeln.“
Ruhig lehnt sich der Philosoph in seinen Ledersessel zurück und lässt das Gesagte in der Stille wirken. Man hört leise die Gespräche der StudentInnen auf dem Gang vor Nyarwaths Büro. Sein Handy klingelt. Es ist Nyarwaths Kollege Owakah. Ob sie sich zum Mittagessen treffen könnten, fragt er, es gebe einiges zu besprechen. Beiden ist der Bezug ihrer Wissenschaft zum alltäglichen Leben wichtig. Ihr Institut an der Universität Nairobi habe schon immer für angewandte Philosophie gestanden. Sie wollen ihre philosophischen Arbeiten aus den Klassenräumen zu den Menschen tragen, zum Beispiel durch die Wiederbelebung des Journals. „Wir behandeln darin Themen, die jeden Menschen etwas angehen: Freiheit, Gerechtigkeit oder Menschenrechte“, sagt Nyarwath und fügt hinzu: „Philosophie aus Kenia soll wieder mehr gehört werden, hier bei uns und in der Welt.“