Was Geflüchtete beim Versuch nach Europa zu gelangen auf dem Weg übers Meer erleiden, darüber berichten Überlebende und Seenotretter:innen.
Der Kameruner Thomas Voyageur möchte seinen richtigen Nachnamen nicht nennen. Seit einem Jahr wohnt er keine fünfhundert Meter von der Küste der andalusischen Stadt Cádiz entfernt. Trotzdem geht der 32-Jährige so gut wie nie an den Strand. Wenn er doch einmal an der Promenade steht, blickt er traurig auf ein Massengrab. „Wenn ich an die vielen afrikanischen Brüder und Schwestern denke, die im Meer ertrunken sind, dann frage ich mich: Warum? Was haben sie getan? Bisher habe ich keine Antwort gefunden.“
Die schwierigen, oft lebensbedrohlichen Bedingungen, unter denen hunderttausende Afrikaner:innen migrieren, verursachen Traumata bei jenen, die es überleben. Viele träumten von einem besseren Leben in Europa, bis sie in der Wüste verdursteten oder beim Versuch das Meer zu überqueren ertranken.
Auf dem Weg über das Mittelmeer sind 2023 so viele Menschen ums Leben gekommen wie seit Jahren nicht mehr. Die Vereinten Nationen gehen von insgesamt 3.041 Todesfällen im Vorjahr aus. Tatsächlich aber kennt niemand exakte Zahlen.
Für den Psychotherapeuten Martin Kolek ist das tägliche Sterben auf See ein Massenphänomen, das er nicht ignorieren will. Der 56-Jährige sitzt in seinem Therapieraum in der deutschen Stadt Paderborn, umgeben von farbenfrohen Bildern und zahlreichen Musikinstrumenten. Als diplomierter Musiktherapeut hat er sich auf die Behandlung traumatisierter Kinder, Jugendlicher und Geflüchteter spezialisiert.
Augen aufs Meer. Jedes Jahr während der Sommermonate heuert Kolek als ehrenamtliches Besatzungsmitglied auf einem Seenot-Rettungsschiff an. „Zurzeit gehöre ich zum Team der Nadir im Mittelmeer. Das ist ein Segelschiff der Organisation ResqShip. Wir sind vor Ort und helfen allen Menschen, die in Not geraten, egal woher sie sind“, sagt er. Manchmal kommt die Hilfe zu spät. Dann muss Kolek Leichen aus dem Wasser bergen. „Einmal konnten wir 22 von 45 Menschen aus einem Boot retten. Zudem haben wir zwei Tote zu uns an Bord genommen. Die beiden Ertrunkenen schwammen in einem Autoschlauch, der senkrecht stand. Wenn ein Schlauch so steht, kann man sicher sein: Die Person da drin ist ertrunken.“
Voyageur aus Kamerun wäre früher nie auf die Idee gekommen, die Hilfe eines Psychotherapeuten wie Kolek in Anspruch zu nehmen. Heute aber weiß er, dass Migrationserfahrungen psychisch krank machen können. Es fällt ihm schwer, über die Gründe seiner Flucht zu sprechen. In Kamerun hatte er nie das Gefühl von der Familie akzeptiert zu sein, warum genau, sagt er nicht. In der Schule wurde er gemobbt. Als Erwachsener bekam er es mit Todesangst zu tun. „Ich habe meine Heimat verlassen, weil ich nicht sterben wollte“, erklärt Voyageur.
Von solchen Ängsten hört Kolek in seinen Therapiestunden oft. Es gibt in Afrika Orte, an die Geflüchtete nicht zurückkehren können, sagt er. „Homosexualität oder Fremdgehen kann zur Todesstrafe führen.“
Schon nach wenigen Minuten will Voyageur den Strand von Cádiz verlassen. Die rauschenden Wellen lösen quälende Erinnerungen in ihm aus. Der großgewachsene, kräftige Mann überquert die Küstenstraße und betritt eine kleine Tapas-Bar. „Wenn die Regierungen der Welt nichts unternehmen, werden noch viel mehr Menschen sterben“, prophezeit er. „Vor allem junge Männer machen sich auf den Weg. Afrika und die Welt schauen tatenlos zu.“
In Marokko hörte Voyageur immer wieder davon, dass Leichen an den Strand gespült worden waren. Dann ging er hin, um zu sehen, ob er einen der Toten kannte. An manchen Tagen sind bis zu zehn Personen aus seinem Bekanntenkreis nach Europa aufgebrochen. „Von so vielen schaffen es womöglich vier nach Spanien“, sagt er. „Fünf kommen zurück nach Marokko und einer stirbt. Das ist wie eine Tombola.“
700 Prozent. Dass die Weltgemeinschaft derart über Leben und Tod entscheiden lässt, ist für Kolek schwer zu fassen. Aber die Zielstrebigkeit und das Durchhaltevermögen der geflüchteten Menschen beeindrucken ihn. „Eine Rückkehr nach Hause schließen die meisten aus. Für diese Menschen gibt es nur eine Richtung.“
Bei seinem ersten Versuch Spanien zu erreichen, wurde Voyageur von einem Schlepper betrogen und verlor viel Geld. Beim zweiten Anlauf war er sich sicher: Es wird kein Zurück geben, egal auf welchem überfüllten, hochseeuntauglichen Gummiboot er landet. „Als ich abends am Strand ankam, waren dort schon viele Menschen. Aber es kamen immer mehr. Schließlich sind alle in ein Boot gestiegen. 58 Personen. Neun Frauen und ein Baby, der Rest Männer“, erinnert er sich.
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beklagt, dass viele der aufblasbaren Gummiboote in China produziert und über den Internetdienst Alibaba als „Qualitätsflüchtlingsboote“ beworben und verkauft werden. Auf See hat Kolek sehr unterschiedliche Flüchtlingsboote gesehen. „Wenn es noch ein bisschen neu riecht und hinten ein Motor dran ist, der ein ruhiges Geräusch von sich gibt, und das Wasser noch seicht ist, dann glauben alle, dass sie schon irgendwie ankommen werden.“
Sobald ein Boot ablegt, können die Passagiere ihren Platz nicht mehr wechseln. „Das ist dann eine Einbahnstraße auf dem Meer, das sich innerhalb von Stunden in eine wilde Masse verwandeln kann. Zwischen Seekrankheit, Verlust an Zeitempfinden und Selbstbestimmung wird das Bewusstsein sehr eingetrübt. Dann geht es nur noch ums Durchhalten und Überleben“, fährt Kolek fort.
Das Boot von Voyageur war vier Nächte und drei Tage unterwegs. Ziel: die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln vor der Südküste Marokkos. Denn die Migrationspolitik der EU, die auf Härte und Abschottung setzt, drängt immer mehr afrikanische Migrant:innen von der Mittelmeerroute auf die deutlich längere und noch gefährlichere Atlantikroute. Davon geht auch der im Juli präsentierte Fluchtbericht der UN-Organisation UNHCR, des Mixed Migraton Centers (MMC) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aus (siehe Kasten). Bram Frouws, Direktor des MMC mit Sitz in Genf, spricht von einem Anstieg der Toten auf der Route von Westafrika zu den Kanaren um 700 Prozent innerhalb eines Jahres. Rund 5.000 Menschen sollen auf dieser Route im ersten Halbjahr 2024 ertrunken sein.
Entlang der Fluchtroute
In einem neuen Fluchtbericht von UNHCR, IOM und MMC wurden 31.500 Menschen in den vergangenen drei Jahren in Italien und afrikanischen Ländern dazu befragt, was sie entlang der Routen zwischen Ost- und Westafrika und Afrikas Mittelmeerküste erlebt haben. „Auf dieser Reise interessiert es niemanden, ob du lebst oder stirbst“ lautet der Titel des Berichts in der deutschen Übersetzung.
tinyurl.com/unhcr-report
Rettung erlebt. „Auf den Schlauchbooten gibt es keine Toiletten, Exkremente landen in Schuhen“, berichtet Kolek. „Die wenigsten Menschen haben je eine Nacht auf dem Meer verbracht, wenn es richtig dunkel wird, ist es einfach nur schwarz. Manchmal wussten wir: Da ist ein Boot. Wir hörten Schreie, konnten es aber nicht sehen.“
Auch Voyageur erinnert sich an die Rufe der Frauen auf seiner Überfahrt: „Viele haben gebetet – egal, welcher Religion sie angehörten.“ Sein Boot hat es nicht bis ans Ziel geschafft. Nach drei Tagen funktionierte der Motor nicht mehr. „Du beginnst zu halluzinieren. Du denkst, dass du sterben wirst. Doch plötzlich erreichte uns ein Anruf vom Roten Kreuz. Die Stimme sagte: ‚Bleibt ruhig und schickt uns eure Position per WhatsApp‘. Irgendwann kam die Rettung. Wir waren nur wenige Kilometer vor Gran Canaria entfernt, an einem Sonntag um acht Uhr am Morgen.“
Bei Rettungen hat Kolek die Erfahrung gemacht, dass es nicht sinnvoll ist, Rettungswesten zu verteilen, solange noch alle Menschen auf dem Boot sind, denn: „Wenn wir Westen ausgeben, kommt es zu Platznot und Leute könnten dabei erdrückt werden. Die findet man dann erst später – tot. Deshalb müssen wir bei vollen Booten erst einige Menschen abbergen.“
Voyageur erlebte seine Rettung wie einen Sieg: „Es war wie das Ende eines Kampfes. Alle jubelten.“
Viele Überlebende können sich auf dem Rettungsschiff erst gar nicht selbstständig bewegen, sind stark unterkühlt. Kolek ist froh, wenn alle in Aluminiumdecken gewickelt sind und keiner mehr Gefahr läuft zu sterben. „Einmal habe ich am Morgen nach so einer Rettungsaktion das Deck aufgeräumt. Da saß ein Mann an der Reling lehnend und betete. Zwischendurch schaute er zu mir rüber und sagte auf Englisch: ‚Ich weiß überhaupt nicht, wie ich hier auf das Schiff gekommen bin‘. Er konnte sich an nichts erinnern.“
Darüber reden. Wenn Migrant:innen an den Küsten Europas ankommen, ist ihr erster Kontakt häufig der mit Beamt:innen einer Sicherheitsbehörde. Auch Voyageur wurde von einem Polizisten registriert. Nach elf Tagen in Polizeigewahrsam wurde Voyageur aufs spanische Festland gebracht. Dort nahm ihn die katholische Vereinigung Cardjín in Cádiz in Empfang. Vorerst ist seine Hoffnung auf ein Leben in Frieden und ohne Angst in Erfüllung gegangen. Seit über einem Jahr wohnt er in Cádiz. Einige der Mitarbeitenden Cardjíns bieten den afrikanischen Gästen an, über ihre traumatischen Reiseerfahrungen zu sprechen. Die belgische Sozialarbeiterin Katja Verardo bedauert, dass die meisten Männer ihre schrecklichen Erinnerungen lieber in einer dunklen Ecke ihres Bewusstseins verbergen: „Die meisten leiden unter heftigen posttraumatischen Belastungen. Aber sie sagen: ‚Das liegt hinter mir. Ich schaue nach vorn. Das ist der Wille Gottes‘.“
Im Vergleich zu den meisten jungen Männern im Wohnheim ist Voyageur sehr offen und gesprächsbereit. Er vertraut der freundlichen Belgierin mit den rostrot gefärbten Haaren. Aber er hat auch Zweifel: „Einerseits fühlt es sich schlecht an über meine Ängste und die Trauer zu sprechen, weil mich solche Gespräche an die Grauen der Reise erinnern. Andererseits bin ich froh, dass ich diese Erinnerungen so aus meinem Herzen herausbefördern kann. Das befreit meine Seele von all dem Bösen, das ich auf meinem Weg gesehen habe.“
Voyageur betritt den Aufenthaltsraum des Wohnheims. Vier Männer sitzen auf zwei alten Sofas. Der Fernseher läuft, aber niemand schaut hin. Alle sind aus Westafrika nach Spanien gekommen. „Der da drüben heißt Yalo“, sagt Voyageur und grüßt einen kräftigen Mann mit Stoppelbart. „Von ihm weiß ich, dass er vor drei Monaten auf einem Boot auf die Kanarischen Inseln gekommen ist, genauso wie ich. Mehr erzählt er nicht. Er will vergessen, was er gesehen hat.“
Der junge Mann aus Conakry, der Hauptstadt von Guinea, hat sich mit Voyageur angefreundet. Er sagt: „Mit ihm habe ich nie Probleme. Wir haben dieselbe Reise hinter uns. Ich mag nicht darüber sprechen. Es war schwer. Daran will ich mich nicht erinnern.“
Auf die Frage, ob er Menschen hat sterben sehen, antwortet er: „Ja. Genau das möchte ich vergessen“. Voyageur schaltet sich ein, offenbar um das Gespräch zu beenden. Später erklärt er: „Menschen, die so was erlebt haben, sind traumatisiert. Yalo ist mit einem Boot in See gestochen, auf dem dreißig oder fünfzig Menschen waren. Genau weiß er das nicht. Sein Kopf ist voller Erinnerungen und manchmal fällt er in eine Depression. Du weißt nie, was er gleich sagen wird.“
Viele verschwinden. Die häufigsten konkreten Ursachen für das Sterben auf See sind Ertrinken, Unterkühlung, Verdursten und das langanhaltende Einatmen toxischer Gase aus veralteten Außenbordmotoren. Im Jahr 2023 gab es in 1.900 Fällen konkrete Hinweise für den Tod von Migrant:innen vor der spanischen Küste. Fünf Tote jeden Tag. Tatsächlich aber vermutet die IOM, dass deutlich mehr Menschen bei dem Versuch Spanien zu erreichen ums Leben kommen. Nur jeder vierte Tote wird gefunden, so die Annahme.
Der Therapeut Kolek berichtet: „Wenn ein Boot untergeht, ist es sofort weg. Auch die Leichen verschwinden schnell. Einmal sind wir an eine Stelle gekommen, an der kurz zuvor vierzig Menschen ertrunken sind. Ein Säugling war noch an der Oberfläche. Ich dachte erst, es sei eine Puppe, die im Wasser schwebt. Doch dann hatte ich ein totes Kind im Arm.“ Die Erinnerung an den kleinen Leichnam motiviert ihn, sich weiter für die ausgelieferten Menschen auf dem Meer zu engagieren.
Voyageur hingegen hofft, dass der Schmerz über die traurigen Erlebnisse bald nachlassen wird. „Ich glaube, ich werde es schaffen.“
Unsere Verantwortung. Längst nicht allen gelingt es, ihre Traumata zu überwinden. Kolek hat einen Klienten, der nachts aufsteht und barfuß durch die Felder läuft. „Die Leute hier kennen das schon und lassen ihn in Ruhe. Nach zwei Tagen kommt er zurück, die Füße zerschrammt, und kann nicht sagen, wo er war.“
Solches Verhalten deutet auf eine Traumafolgestörung hin. Die psychotherapeutischen Versorgungssysteme der europäischen Länder sind in erster Linie auf die typischen Störungserlebnisse der eigenen Bevölkerung eingestellt. „Dass jetzt Menschen aus anderen Kulturen mit schwerwiegenden Traumata zu uns kommen, ist eine große Herausforderung“, sagt Kolek. „Unsere bewährten Therapieideen funktionieren da nicht.“
Doch auch ein kulturell sensibles und auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenes Therapieangebot würde das Problem der steigenden Zahl traumatisierter Menschen, die an den Küsten Europas ankommen, nicht lösen.
Kolek nimmt die Menschen in Europa in die Verantwortung: „Solange uns die Grenzen auf dem Meer so wichtig sind, dass wir meinen, sie gegen wehrlose Menschen verteidigen zu müssen, solange sind wir Mitbeteiligte an deren massenhaftem Sterben und den Traumatisierungen. So darf es nicht weitergehen. Der Friedhof ist übervoll.“
Andreas Boueke lebt und arbeitet seit über 30 Jahren als freier Journalist ohne Smartphone vorwiegend in Mittelamerika. Aber ab und zu recherchiert er auch in anderen Teilen der Welt.
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