„Ahmadi – bye, bye …“ singt Ramin lauthals über die nächtliche Valiasr-Straße. Seine Freunde schwingen ihre grünen Bänder im Rhythmus des Kampfrufs dieser Tage. Es ist zwei Uhr nachts, sie scheinen es nicht eilig zu haben, nach Hause zu kommen. Aufräumfahrzeuge sind unterwegs und sammeln zusammen, was von den täglichen Straßenmärschen herumliegt, Flugzettel, grüne Fähnchen, Plastikflaschen – Zeug wie nach einem Rockkonzert. In diesen Tagen vor der Wahl herrscht in Teheran Ausnahmezustand. Die Valiasr-Straße, eine breite Platanenallee und Nord-Süd-Achse der Metropole, zählt zu den Hauptschauplätzen.
Überall dort, wo sich das Leben ballt, sich täglich der Verkehr staut, sind sie dieser Tage unterwegs, spontan und unorganisiert, Abertausende, die einen Wechsel wollen, wirtschaftliche und soziale Sicherheit und ein freundlicheres Gesicht des Iran nach außen. Vor allem die Jungen kosten die Tage der Freiheit vor der Wahl in vollen Zügen aus und schreien ihren Frust und ihre Sehnsucht nach mehr Luft zum Leben hinaus.
Einige Tage später. Ich komme von Farzaneh Taheri-Golshiri. Die Bürgerrechtlerin wohnt weit draußen am Stadtrand. Diese Wahl, sagt sie, habe etwas ganz Neues zutage gefördert. Nicht nur die fiebrige Begeisterung der Jugend, parallel dazu sei nach Jahren der Passivität die Zivilgesellschaft erwacht. Zum ersten Mal hätten sich in diesem Wahlkampf zivile Gruppen, BürgerInnen und Intellektuelle engagiert, hätten Menschen-, Frauen- und Minderheitenrechte in die Programme der reformwilligen Kandidaten, Mussavi und Karrubi, hineinreklamiert. Sie fühle seit Jahren zum ersten Mal wieder so etwas wie Zuversicht, sagt Farzaneh.
Unbestritten ist, dass die mächtigste Instanz der Islamischen Republik Ayatollah Ali Khamenei ist, der oberste religiöse Führer. Er ist die tragende Säule eines komplexen Systems, in dem militärisch-sicherheitsdienstliche Netzwerke, religiöse und klerikale Institutionen, wirtschaftliche Konglomerate (die sich der staatlichen Kontrolle entziehen) und das Justizsystem ineinander greifen. Als Träger des Herrschaftsprinzips des velayat-e faqih (Herrschaft des obersten Rechtsgelehrten) verkörpert Khamenei die ideologische Bindekraft, die das System zusammenhält.
Indem Khamenei sich über das Wahlergebnis hinweggesetzt und hinter Ahmadinejad gestellt hat, hat er den seit der Revolution währenden Kampf zwischen dem totalitären Establishment und den republikanisch-demokratischen Elementen beendet. Die seit Juni andauernden Umbesetzungen von Schlüsselpositionen und das Verbot der letzten kritischen Medien zeugen davon. Von den demokratischen Elementen verbleibt das Parlament. Hier regt sich zwischendurch Widerspruch. Abgeordnete – auch erzkonservative – kritisieren Ahmadinejads unfähige Minister und verlangen Auskunft über die Vorgänge in den Gefängnissen. Es bleibt ohne Folgen.
Dort, wo Ahmadinejad wirbt, sind moderne junge Menschen in der Minderzahl. Die Männer sind unrasierter, die Frauen meist in Gruppen beisammen und verhüllt im schwarzen Tschador. Wenige Tage vor der Wahl soll Ahmadinejad in Mosallah auftreten, einer Moschee-Anlage in Teheran, die, wenn sie einst fertig gebaut ist, die größte der Welt sein soll. Wir sind Stunden früher da, hunderte Autobusse parken auf dem Gelände, Menschenmassen strömen auf das Gebäude zu. Ahmadinejad überzeugt sie, weil er korrupte Politiker anprangert, den Armen hilft und die iranischen Interessen mutig vor der Welt verteidigt. Am Abend zeigt das Fernsehen Luftaufnahmen der Massen bei Mosallah und andere Ahmadinejad zujubelnde Menschenmeere.
Am Donnerstag vor der Wahl herrscht verordnete Ruhe. Banges Warten hat die hochfliegenden Hoffnungen gedämpft. Die Angst vor Wahlfälschung geht um. In den improvisierten Presse-Räumen für internationale Medien im Laleh-Hotel spricht der prominente Politologe Saeed Leylas mit uns. Er sei in den vergangenen Monaten durch ganz Iran gereist, sei in Städten und in der Provinz gewesen. „Überall gibt es eine echte Bewegung gegen Ahmadinejad“, versichert er, „gegen ihn und bestimmte Gruppen, die wir ‚Radikale‘ nennen.“ Er gesteht, dass er sich vor dem morgigen Ergebnis fürchtet: „Die Stimmung im Land ist sehr angeheizt.“
Kurz nach Mitternacht nach dem Wahltag weckt mich ein Anruf aus Wien. In den Redaktionen überschlagen sich die Eil-Meldungen: Mussavi hat sich zum Wahlsieger erklärt. Zeitgleich meldet das Innenministerium, Ahmadinejad liege in Führung. Ich kann nicht glauben, dass es jetzt schon ein Ergebnis geben soll. Wenige Häuserblocks von meinem kleinen Hotel entfernt, bei der Wahlzentrale Mussavis, ertönen Schreie und Parolen. Ich nehme Mantel und Kopftuch und eile hin. Viele sind da, schockiert und wütend. „Nieder mit dem Diktator, nieder mit dem Lügner!“, skandieren sie. In der engen Gasse tauchen plötzlich Polizisten auf und treiben die Menschenmenge mit Knüppeln und Tränengas auseinander.
Samstag früh. Ahmadinejad ist laut Innenministerium mit 65 Prozent der Stimmen uneinholbar in Führung und Mussavi mit 30 Prozent weit hinten. Ich telefoniere mit Hossein Rassam an der britischen Botschaft. Ich kenne ihn als unparteiischen und klaren Analytiker. Seine Stimme klingt leise. „Ist das Resultat gefälscht?“, frage ich. Er rechnet vor: „Statt der üblichen 60 sind 85 Prozent wählen gegangen. Das sind zehn Millionen Stimmen mehr als sonst, Stimmen von so genannten stummen Wählern, die nie wählen, aber diesmal für Mussavi gegangen sind. Mussavi müsste also weit über zehn Millionen Stimmen haben. Dem ist nicht so.“ Also könne etwas nicht stimmen, folgert Hossein Rassam.
Draußen in der Valiasr-Straße und den nahen Gassen rebellieren die AnhängerInnen von Mussavi gegen das Wahlergebnis. Wo sich Demonstranten sammeln und mit erhobenen Fäusten „Ahmadi verschwinde!“, „Tod der Diktatur!“ oder „Mussavi, rette unsere Stimmen!“ skandieren, rücken augenblicklich die Anti-Krawall-Kommandos der Polizei heran und immer mehr Motorrad-Einheiten der Basijis, der staatlichen Schlägertrupps mit Helmen, Knüppeln und Schutzwesten über der Zivilkleidung.
Jeder, der es im Iran von heute wagt, seinen Protest gegen das Regime offen zu zeigen oder hörbar zu machen, weiß, dass er riskiert, es mit den Basijis zu tun zu bekommen. Sie tauchen auf, uniformiert oder in Zivilkleidung, zu Fuß oder zu zweit auf Motorrädern, einer fährt, einer schlägt mit Knüppel oder Eisenstange wahllos auf alle ein, die als Feinde des Regimes wahrgenommen werden. Viele tragen Schusswaffen. Gegründet wurde die Basij-Oranisation von Ayatollah Khomeini, als paramilitärische Freiwilligen-Miliz zur Verteidigung der Revolution. Basij bedeutet Mobilisierung.
Die Milizen sind dem Regime und allen voran Ayatollah Khamenei treu ergeben. Sie kommen vielfach aus benachteiligten Schichten, werden trainiert und indoktriniert, angebliche Feinde des Regimes und damit des Islam zu vernichten. Rechenschaft für ihr Tun sind die Basij-Milizen nicht schuldig – ihre Organisation entzieht sich dem normalen Justizapparat.
Am vierten Tag nach der Wahl muss ich den Iran verlassen. Mein Visum läuft ab. In Wien erfahre ich, dass unter den reihenweise verhafteten Reformpolitikern, JournalistInnen und Intellektuellen auch Saeed Leylas und Hossein Rassam sind.
Mit der Niederschlagung der Proteste eröffnete das Regime auch die Jagd auf prominente Reformpolitiker und regimekritische Intellektuelle. Viele wurden mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen abgeholt. Es ging darum, prominente Stimmen, die Führung übernehmen könnten, rechtzeitig auszuschalten. Acht Wochen nach der Wahl wurde der Reigen der Schauprozesse eröffnet.
Das Staatsfernsehen zeigte lange Sitzreihen sichtlich gezeichneter Gefangener in grauer Sträflingskleidung vor dem Untersuchungsrichter. Einer der ersten, der sich vor laufender Kamera selbst erniedrigen und Abbitte leisten muss, ist Ali Abtahi, Vizepräsident unter Mohammad Khatami und bei der Jugend beliebter bloggender Mullah. Ihm, wie einigen anderen, die groteske Geständnisse ablegen, werden Kontakte zur Familie erlaubt.
Wie mindestens hundert andere sitzt der Politologe Saeed Laylas weiterhin im Gefängnis, in Isolationshaft. Mitte September hören die Massenprozesse plötzlich auf. Es scheint, als hätten die Machthaber begriffen, dass die absurden Veranstaltungen und Geständnisse, die im Iran ohnehin niemand glaubt, in der Öffentlichkeit mehr Abscheu als Angst erzeugen.
Bis heute scheinen die Machthaber davor zurückzuschrecken, die inzwischen zu Gallionsfiguren der grünen Bewegung gewordenen Politiker Musavi, Karrubi und Khatami zu verhaften. Was sie mit den politischen Häftlingen in ihren Gefängnissen vorhaben, liegt im Dunkeln – man hat den Eindruck, das Regime überlegt, wie weit es noch gehen kann.