Warum Arbeiter:innen unterrepräsentiert sind

Von Barbara Ottawa  · ·

Demokratische Mitbestimmung von Arbeitnehmer:innen erodiert nicht nur in Betrieben, auch auf Länderebene, warnt Politikwissenschaftler Gerd Valchars.

Wie soll man sich bei Wahlen, von denen man ausgeschlossen ist, mitgemeint fühlen? Und wie steht es um die Mitbestimmung für Arbeitnehmer:innen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft? Gerd Valchars, Wiener Politikwissenschaftler und Migrationsexperte, hat sich bei einem Pfefferminztee im Generationencafé Vollpension im 4. Wiener Gemeindebezirk Zeit genommen, mit dem Südwind-Magazin gedankliche Streifzüge zum Thema Arbeitnehmer:innen und Demokratie zu unternehmen. Für ihn steht fest: „In der betrieblichen Demokratie gilt nicht: Andere vertreten dich mit.“ 

Nach über 20 Jahren, in denen selbst organisierte Arbeiter:innenvereine wie Migrare aus Linz Prozesse geführt und Überzeugungsarbeit geleistet hatten, wurde 2006 in Österreich das aktive und passive Wahlrecht bei Betriebsrats- und Arbeiterkammer-Wahlen auf alle Arbeiter:innen mit einer bestimmten Betriebszugehörigkeit ausgeweitet.

„Es hat Unternehmen gegeben, in denen bis zu hundert Prozent Nicht-Staatsbürger:innen tätig waren. Die hätten unter der alten Rechtslage keinen Betriebsrat gehabt, was ihre Arbeitnehmer:innenrechte gefährdet, weil eine Kontrollfunktion fehlt,“ so Valchars, der als Länderexperte für Österreich Teil des Global Citizenship Observatory (Globalcit) am Europäischen Hochschulinstitut (EUI) Florenz ist.

Wer die Wahl hat. Wahlrecht ist „gewachsen und erkämpft“, es geht auf Höchstgerichtsurteile zurück. Valchars betont, dass „Österreich in solchen Dingen immer nur genau das umsetzt, was minimal notwendig ist.“ Damit bezieht sich der Politikwissenschaftler etwa auf die EU-Wahlrechtsvorschrift, wonach EU-Bürger:innen in den demokratischen Prozess eines Landes eingebunden werden müssen – in Österreich und etlichen anderen EU-Staaten geschieht dies etwa auf Gemeindeebene. Anders ist das weltweit nur in wenigen Ländern, z.B. in Neuseeland, wo nicht-Staatsangehörige auf nationaler Ebene wählen dürfen.

Valchars ist überzeugt: „Wenn ich Personen ins Land lasse, dann sollen sie auch wählen dürfen.“ Er gibt zu bedenken, dass das allgemeine und gleiche Wahlrecht für alle hart erkämpft wurde. Bis ins 20. Jahrhundert war auch hierzulande das Stimmrecht von der Steuerleistung abhängig.

Parallel zu dieser historischen Entkoppelung könnte heute das Wahlrecht von der Staatsbürger:innenschaft gelöst und an die Aufenthaltsdauer gebunden werden. „Das würde Sinn machen“, so Valchars, „weil alle, die in einem Land leben, von den politischen Entscheidungen betroffen sind und mit zunehmender Aufenthaltsdauer das Interesse und das Wissen um das politische Geschehen wachsen.“

Dafür bedürfte es einer Änderung der Verfassung, für die es derzeit keine Mehrheit gibt. Ebenso wenig wie für eine Reform des Staatsbürger:innenschaftsgesetzes. Und das, obwohl Österreich beim Zugang zur Staatsbürger:innenschaft im EU-Vergleich besonders restriktiv ist.

Repräsentationsgefüge. Weil Menschen, die schon lange in Österreich leben, nicht wählen dürfen, habe sich auch das Repräsentationsgefüge verschoben. „So hat zwar Wien mehr Einwohner:innen als Niederösterreich, aber Niederösterreich mehr Wahlberechtigte. Im Nationalrat hat Wien eigentlich sechs Sitze zu wenig“, rechnet Valchars vor. „Wien ist gegenüber seiner tatsächlichen Bevölkerungsstärke im politischen Geschehen unterrepräsentiert“, so wie die städtische Bevölkerung  insgesamt, jüngere Menschen, niedrigere Einkommensgruppen oder Arbeiter:innen.

Rein pragmatisch glaubt er, dass sich die Parteien einem potentiellen Wähler:innenpool von fast 1,5 Millionen Menschen ohne Staatsbürger:innenschaft (250.000 davon sind sogar in Österreich geboren) nicht entziehen werden können – und demokratiepolitisch ohnehin nicht.

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