Kleine Schritte zu einem großen Ziel

Von Dagmar Weidinger · · 2009/11

Integration in Österreich bedeutet auch Emanzipation für eingewanderte Frauen. Soma und Saya Ahmad, zwei kurdisch-stämmige Schwestern in Wien, führen diesen Prozess beispielhaft vor – und engagieren sich außerdem für Frauenrechte in Ländern des Nahen Ostens.

„Eines Tages“, so beginnt Soma ihre Erzählung, „kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und sagte, packt das Nötigste in eure Koffer, wir fahren.“ Das war 1991 in Kirkuk, im nördlichen Irak. Den drei Kindern erzählt man, dass es sich um einen kurzen Urlaub handle. „Sag noch schnell tschüss zu deinen Tanten.“

Anfang der 1990er Jahre beschließen kurdische Anführer im Norden des Irak, sich gegen das Saddam-Regime aufzulehnen. Die Unterstützung der USA scheint ihnen sicher. Die beiden damals fünf- und sechsjährigen Schwestern Soma und Saya Ahmad verstehen noch wenig von den politischen Unruhen, die rund um sie ausbrechen. Doch der Krieg wird auch ihr Leben in zwei Teile reißen und ihre Großfamilie auf ganz Europa verstreuen. Der Widerstand schlägt fehl, die Unterstützung der USA bleibt aus – zurück bleiben tausende KurdInnen, die der Willkür der Saddam-Truppen ausgeliefert werden. Die Flucht der damals fünfköpfigen Familie Ahmad führt über die türkischen Berge, dann ins städtische Ankara. Die Reihe der Flüchtlingslager, die die Familie durchläuft, ist lang. Die vorläufige Endstation heißt Klagenfurt.

Dort beziehen sie als einzige kurdische Familie eine kleine Wohnung und werden „ÖsterreicherInnen“. „Von einem Tag auf den anderen“, wie Soma im Rückblick meint. „Für unsere Eltern war schnell klar, dass sie sich sofort integrieren müssen, um nicht komplett allein zu bleiben.“ Auch heute befinden sich die größten kurdischen Gruppen in der Diaspora nicht in Klagenfurt, sondern in Wien, Graz und Linz. Was anfangs extrem schwierig war, betrachten Soma und Saya im Rückblick als ihre größte Chance. „Dass ich heute so frei denken kann, hat sicher damit zu tun, dass wir nicht sofort in die kurdische Exil-Community hineinkamen“, resümiert Saya.

Bereits einen Tag nach der Ankunft schickt der Vater, selbst 22 Jahre lang Physik- und Mathematiklehrer im Irak, seine beiden Mädchen in die nächstgelegene Schule, denn Bildung sei das Wichtigste überhaupt. Ab dann wäre alles „normal“ gelaufen, meint Soma: Volksschule, Gymnasium, Matura – anschließend die große Frage: Was mache ich jetzt? Ihre Schwester Saya hat sich bereits ein Jahr zuvor entschieden, Internationale Entwicklung in Wien zu studieren. Soma trifft dieselbe Wahl, schwenkt jedoch bald um auf Politikwissenschaft und Arabistik.

Kein leichter Weg. „Zu mir sagen die Leute immer, du spinnst ja, du bist im Ausland, du hast alle Möglichkeiten – und dann gehst du erst recht in die Politik“, bringt Soma die Einstellung vieler ihrer kurdischen Familienangehörigen auf den Punkt. Die beiden Schwestern spüren die Resignation all jener, die einmal hart für ihre Freiheit gekämpft haben und dann enttäuscht wurden.

Politik blieb dennoch immer Thema bei den Treffen der über ganz Europa verstreuten Familien der Ahmads. Während sich die Frauen bei einer Schale Tee über die neuesten Heiratspläne austauschten, hätten die Männer bei einer Flasche Raki politisiert. Soma hörte ihnen zu: „Ich war immer bei den Männern und habe versucht, irgendetwas zu verstehen von den ganzen Putschs und Militäraufmärschen, den vielen Präsidenten und was nicht alles schief gegangen ist. Ich hab damals gedacht, ich muss Politik verstehen.“ Auch Saya kennt diesen Wissensdurst. Noch in der Schulzeit schreibt sie eine kritische Arbeit über die einseitige Verherrlichung der kurdischen Nationalidentität und die verinnerlichte Opferrolle vieler ihrer Landsleute. Der kritische Blick auf die Vergangenheit und die Auseinandersetzung mit eigenen Fehlern ist ihr von Anfang an wichtig.

So gehen Soma und Saya heute nicht nur ihren Studien nach, sondern sind seit drei Jahren aktive Mitglieder von LeEZA (Liga für emanzipatorische Entwicklungszusammenarbeit), einer kleinen österreichischen Nichtregierungsorganisation (NGO), die Frauenprojekte im Nord-Irak und in der Türkei unterstützt. Den zur Zeit acht Frauen und zwei Männern ist es in den vergangenen Jahren auch „ohne Büro“ immer wieder geglückt, Fördergelder der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, der Stadt Wien oder des Weltgebetstages der Frauen für ihre Projekte zu bekommen.

„Frauen im Nord-Irak sind traditionell aus dem öffentlichen Raum verbannt“, erzählt Saya. „Meine eigene Tante wollte mich nicht zum Einkaufen hinausgehen lassen“, berichtet sie von einem Besuch in Sulaimaniyya. Vor allem in ländlichen Regionen schränken traditionelle Rollenbilder die persönliche Freiheit der Frauen massiv ein. Wer als Frau in das Männern vorbehaltene Café geht, begeht einen massiven Tabubruch. „Du lebst für die Gesellschaft, nicht für dich“, beschreibt Saya, was sie oft selbst erlebt hat.

Die von LeEZA mitfinanzierten Frauenzentren bieten vielen Frauen erstmals „einen Raum für sich“. Alphabetisierungskurse, Sprachkurse, Computerkurse, Nähkurse – das alles soll die Selbständigkeit der Frauen stärken. Soma, die 2008 ein derartiges Zentrum im Irak besuchte, berichtet gerne von dem Beispiel einer jungen Frau, die sich nach Abschluss eines Nähkurses mit einer kleinen Schneiderei ökonomisch selbstständig machen konnte – von ihrer Familie und ihrem Mann.

LeEZA kooperiert im nordirakischen Sulaimaniyya mit dem Frauenzentrum „Khanzad“, das bereits seit 1999 mit Frauen und Mädchen im Untersuchungsgefängnis und seit kurzem auch im Straf- und Jugendgefängnis von Sulaimaniyya arbeitet. Konkret fördert LeEZA mit Hilfe öffentlicher Gelder und privater Spenden aus Österreich ein Projekt zur juristischen, medizinischen und psychologischen Unterstützung inhaftierter Frauen und Mädchen. Diese sind zum größten Teil wegen „Ehebruchs“, „Prostitution“, „Kuppelei“ oder „Bettelei/Rumtreiberei“ im Gefängnis. Hintergrund ihrer Inhaftierung ist in vielen Fällen die Flucht vor Zwangsverheiratung und Gewalt in der Familie. Daher bildet die Zusammenarbeit mit den Familienangehörigen der Betroffenen zur Erarbeitung von Perspektiven nach der Entlassung (Reintegration, Schutz vor Gewalt und Ehrenmord) einen weiteren Schwerpunkt des Projekts. Auch Lobbyarbeit für die Verbesserung der Haftbedingungen und Reformen im Strafvollzug sowie begleitende Öffentlichkeitsarbeit gegen die soziale Marginalisierung der Angeklagten sind wichtige Elemente

Wer Saya und Soma reden hört, glaubt kaum, dass die beiden jungen Frauen erst Mitte 20 sind. Mit Begeisterung und Elan setzen sie sich für ihre Sache ein und bleiben doch stets am Boden der Realität. „Demokratisierung ist ein Prozess, der Jahre bzw. Generationen dauern kann. Ich halte mich an Karl Poppers Politik der kleinen Schritte“, beschreibt Soma ihre Einstellung. „Mach etwas auf kleiner Ebene und lass den Dominoeffekt wirken.“ „Noch vor der Veränderung kommt der Diskurs“, fügt Saya hinzu. Informieren und diskutieren kann manchmal schon genug sein, um Veränderungen in Gang zu setzen. Saya weiß, wovon sie spricht – auch privat.

Den Kampf um die eigene Freiheit als Frauen mussten die beiden Schwestern nicht zuletzt zuerst in der eigenen Familie in Österreich durchleben – wenn auch nur „in kleinem Rahmen“, wie beide betonen. Saya, die älteste Tochter, bekam dies besonders deutlich zu spüren. Als sie mit 17 Jahren ein Mitschüler mit dem Auto nach Hause brachte, war dies Anlass für einen heftigen Familienstreit. „Als Frau allein im Auto eines Mannes, mit dem man nicht verlobt ist – das war einfach zuviel für meinen Vater.“ Dabei wäre er im Vergleich zu anderen kurdischen Männern ohnehin sehr tolerant. Saya und Soma wissen, dass nur wenige das Glück haben, mit ihren Eltern zumindest über ihre Standpunkte diskutieren zu können. „So hat unser Vater im Laufe der Zeit die Chance gehabt, von uns zu lernen und wir von ihm“, ergänzt Soma die Erzählung ihrer Schwester. Wie weit sie es tatsächlich geschafft haben, zeigt die Tatsache, dass beide heute gemeinsam in einer Wohngemeinschaft wohnen und Saya seit vier Jahren einen Freund hat – ohne verlobt zu sein.

Für viele Kurdinnen in Österreich wie im Nahen Osten sind solche selbstbestimmten Lebensumstände noch kaum vorstellbar. Doch Soma und Saya sind überzeugt, dass es genau das für eine funktionierende Gesellschaft braucht: selbstständige und politisch handlungsfähige Frauen. Mit den von LeEZA unterstützten Frauenprojekten wolle man deshalb „konstruktives, politisches Potenzial“ wecken. Auf die Frage, ob Frauen denn bessere Politik machen würden, folgt eine vorsichtige Antwort: „Nicht besser, sondern anders“, meint Soma. „Vielleicht ein bisschen diplomatischer und sensibler“. Eines ist auch ihnen klar: der Demokratisierungsprozess im Nahen Osten ist eine Aufgabe, die nur von beiden Geschlechtern gemeinsam geschafft werden kann.

Weitere Infos: www.leeza.at

Dagmar Weidinger ist Lektorin an der Universität Wien und freie Journalistin. Sie arbeitete als Volontärin in Mexiko und später in der Vorbereitung angehender VolontärInnen.

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