Was wäre, wenn die Natur im Fokus unseres Denkens und Handelns stünde? Ideen aus dem Globalen Süden zeigen, wie es gehen könnte. Etwa das Konzept des „Buen Vivir“ und Tiere, die vor Gericht ziehen.
Nicht mehr der Mensch ist im Zentrum, sondern die Natur – eine abwegige Vorstellung? Angesichts der menschengemachten Klimakrise ein erforderliches Gedankenexperiment.
Besonders im Globalen Norden, der seit langem fossile Energieträger verbrennt und sich damit industrialisierte. Die Wissenschaftler Andrew Fanning und Jason Hickel rechneten in einer 2020 veröffentlichten Studie im Fachmagazin The Lancet Planetary Health aus, wie viel CO2 seit dem Jahr 1960 hätte emittiert werden dürfen, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens – eine Erhitzung um maximal 1,5 Grad – nicht zu überschreiten. Wenn man dieses globale CO2-Budget auf alle Menschen weltweit zu gleichen Teilen verteilen würde, hätten den Wissenschaftlern zufolge die 39 Länder aus dem Globalen Norden ihren Anteil im Durchschnitt bereits 1986 aufgebraucht.
Mensch im Mittelpunkt. „Wir müssen von der Ausbeutung und Beherrschung der Natur wegkommen“, sagt Biancka Arruda Miranda. Sie ist Politikwissenschaftlerin, Umwelt- und Menschenrechtsaktivistin sowie Vorstandmitglied der „KoBra“ („Kooperation Brasilien“) in Deutschland. „Ich habe den Eindruck, dass in den Gesprächen und Debatten in Europa eine Trennung zwischen Mensch und Natur besteht, doch das lässt sich nicht trennen oder hierarchisieren“, sagt die Brasilianerin, die seit mehr als fünf Jahren in Deutschland lebt.
Der Glaube, dass der Mensch an erster Stelle stehe, und alles andere danach komme, habe mit zur aktuellen Klimakrise beigetragen, so Arruda Miranda.
Dieser Anthropozentrismus würde allerdings bis heute kaum in Frage gestellt, obwohl der Mensch in den vergangenen Jahrzehnten durch seinen Energieverbrauch, durch Treibhausgasausstoß, Entwaldung und Kunstdüngereinsatz massiv in die Natur eingriff und damit entscheidend den aktuellen Zustand der Erde prägte.
Ökofeminismus
Ökofeminismus sieht strukturelle Ähnlichkeiten in der Beherrschung und Ausbeutung von Frauen und der Natur. Geprägt wurde der Begriff 1974 von der französischen Feministin Françoise d’Eaubonne. Vertreterinnen des Ökofeminismus sind unter anderem die indische Sozialaktivistin Vandana Shiva oder die kenianische Umweltaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Wangari Muta Maathai.
Perspektivenwechsel. Eine Möglichkeit, ein anderes Verständnis von Natur in der Praxis umzusetzen ist, die Rechte der Natur anzuerkennen: In ihrem Buch „Die Natur hat Recht“ (Knesebeck Verlag, 2023) führt die deutsche Journalistin Elisabeth Weydt dazu das Beispiel Ecuadors an. Das lateinamerikanische Land war 2008 das erste, das die Natur in seiner Verfassung als Rechtssubjekt anerkannte. So können stellvertretend einzelne Personen oder Umweltorganisatio-
nen etwa im Namen eines vergifteten Flusses vor Gericht ziehen, ohne dass zuvor Rechte des Menschen verletzt worden sein müssen.
Das Besondere an den Rechten der Natur ist, dass die Natur nicht schützenswert ist, weil sie dem Menschen dient – so wie es etwa beim Menschenrecht auf eine saubere Umwelt der Fall ist –, sondern sie darf hier ohne Zweck existieren. „Lange hatten nur weiße Männer Rechte auf dieser Welt, später auch Schwarze Männer, Frauen, Kinder. Jetzt vielleicht die Natur“, schreibt Weydt.
Diese neuen Rechte könnten eine ähnliche Bedeutung bekommen, wie die Abschaffung der Sklaverei oder das Frauenwahlrecht. Es gehe nicht nur um ein paar Paragrafen, sondern um ein Weltverständnis: die Beziehungen zwischen Mensch und Natur; das Verständnis davon, ohne Dominanz und Ausbeutung zusammen zu leben (siehe Box „Ökofeminismus“).
Zahlreiche Anwendungen. Weltweit gibt es mittlerweile zahlreiche Initiativen, die sich darum bemühen, der Natur einen Rechtsstatus zuzuerkennen und sie als Rechtssubjekt zu betrachten (siehe Tipp „Wissenswert“). Die Autorinnen Laura Burgers und Jessica den Outer sprechen in ihrem Buch „Das Meer klagt an!“ (2023, S. Hirzel Verlag) von rund 400 Beispielen, wo die Rechte der Natur auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene durchgesetzt wurden. Das könnte den Schutz der Natur etwa gegenüber Konzernen stärken. Bäume, Flüsse und Berge als Rechtspersonen, das mag skurril klingen. Nicht-menschliche Rechtspersonen existieren jedoch seit langem, etwa in Form von GmbHs oder Aktiengesellschaften, die ebenfalls als juristische Personen dienen und Rechte besitzen sowie bei Gericht Klage einreichen können.
Die Idee, der Natur Rechte zu verleihen, beschrieb erstmals der US-amerikanische Rechtsprofessor Christopher D. Stone 1972 in seinem Essay „Should Trees Have Standing?“ (dt. Titel: „Haben Bäume Rechte?“). Auslöser war ein Konflikt um ein Skiresort in den Bergen Kaliforniens, das der Walt-Disney-Konzern errichten wollte. Das Gericht entschied damals, dass die Klage der Naturschutzorganisation, die sich für das Gebiet einsetzte, nicht zulässig sei, da die Rechte der Organisation nicht verletzt worden seien. Stone schlug in seinem Essay vor, das Tal zu einem Rechtssubjekt erklären zu lassen, um seinen Schutz einklagen zu können.
Buen Vivir. Verfassungsrang erhielt 2008 in Ecuador auch das Buen Vivir, das Gute Leben, Bolivien folgte ein Jahr später. Buen Vivir – in der Sprache der Quechua Sumak kawsay genannt – fußt auf Traditionen und Wertvorstellungen indigener Völker und bedeutet so viel wie in Harmonie mit der Natur und der einen umgebenden Welt zu leben. Dabei geht es nicht zuletzt um die Abkehr vom westlichen Entwicklungskonzept des grenzenlosen Wachstums sowie einen Umbau von einer kapitalistischen hin zu einer solidarischen Wirtschaft. „Solange der Profit einzelner vor dem Allgemeinwohl steht, ist keine Entwicklung möglich“, beschrieb es Alberto Acosta, Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Bergbauminister in Ecuador in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur. 2008 hatte er als Präsident der verfassungsgebenden Versammlung entscheidend mitgewirkt, dass das Recht auf Buen Vivir in die Verfassung aufgenommen wurde.
Grünes Costa Rica
Costa Rica gilt in vielen Bereichen als grünes Vorzeigeland. So bezahlt das Land etwa Gemeinden und Landbesitzer:innen Geld, wenn diese die Umwelt aktiv erhalten. Finanziert wird die Maßnahme durch Steuern, die auf fossile Brennstoffe erhoben werden. Seit zehn Jahren setzt das Land zudem fast vollständig auf erneuerbare Energien. Elektrofahrzeuge sind von zahlreichen Steuern und Einfuhrzöllen befreit.
M. Ö.
Beispiel Yasuní. Der wohl bekannteste Versuch, diesen Ansatz in die Praxis umzusetzen, ist die Yasuní-ITT-Initiative. Ecuador machte 2007 der internationalen Staatengemeinschaft den Vorschlag, die großen Ölvorkommen unterhalb des Yasuní-Nationalparks nicht zu fördern, wenn die Industriestaaten im Gegenzug einen Teil der Gewinnausfälle kompensieren.
Die Kompensationszahlungen sollten 3,6 Milliarden US-Dollar über zwölf Jahre betragen, etwa die Hälfte dessen, was Ecuador durch eine Förderung erzielen hätte können. Der damalige Präsident Ecuadors, Rafael Correa, stoppte 2013 die Initiative, nachdem von den Industrieländern bis dahin nur rund 13,3 Millionen US-Dollar geflossen waren. Das Gebiet wurde zur Erdölförderung freigegeben.
Gleichzeitig formierte sich aber der Widerstand im eigenen Land: Umweltaktivist:innen und indigene Gruppen sammelten 750.000 Unterschriften für die Durchführung eines Referendums. Zehn Jahre später, im August 2023, fand es nach langer Blockade schlussendlich statt. Das ecuadorianische Verfassungsgericht gab grünes Licht dafür und legte zudem fest, dass bei einem positiven Ausgang der Schutz des Regenwaldes unmittelbar umgesetzt werden müsse, also konkret alle Förderanlagen zurückgebaut und die Bohrlöcher versiegelt werden. Zwei Drittel stimmten beim Referendum gegen die weitere Erdölförderung im Nationalpark – trotz zahlreicher Warnungen der Regierung vor Verlust an Gewinnen und Arbeitsplätzen und Protesten der
Ölindustrie. Ecuador wurde somit zum ersten Land, in dem ein Volksentscheid für den Schutz der Natur und gegen den Abbau fossiler Brennstoffe ausging.
Sieg der Frösche. Einen Sieg zugunsten der Natur und von Fröschen erzielte 2020 auch eine Initiative in der Provinz Imbabura in Ecuador. Dort verhandelte ein Gericht eine Klage gegen ein Bergbauprojekt, das zuvor eine Genehmigung bekommen hatte, obwohl es in einem sensiblen Ökosystem umgesetzt werden sollte.
Zwei Froscharten sind in dem Gebiet endemisch, kommen also weltweit nur an diesem einen Ort vor, und sind zudem vom Aussterben bedroht. Daher zogen quasi die Frösche vor Gericht. Die Biologin Andrea Terán-Valdez, die sie erforschte, beauftragte einen Anwalt mit einer Klage gegen das Projekt. Das Besondere: Die Frösche wurden darin als ganze Spezies behandelt, die klagt und deren Ökosystem bedroht ist. Im Namen der Frösche wurde der Schutz ihres Ökosystems gefordert, da sie nur darin eine Überlebenschance haben. Das Gericht urteilte, dass die Baugenehmigung unrechtmäßig ist.
Vorreiter Gambia
Gambia fokussiert bereits seit Jahrzehnten auf Wiederaufforstung. Die Mangroven – salztolerante Bäume oder Sträucher, die an tropischen und subtropischen Küsten sowie Flussdeltas wachsen – sollen beispielsweise in Gambia und Teilen Senegals zwischen 1988 und 2018 um 51 Prozent zugenommen haben. Sie dämmen Erosionen und reduzieren Überschwemmungen. Das westafrikanische Land präsentierte vor zwei Jahren sein nächstes Ziel: innerhalb eines Jahrzehnts sollen 7.000 Hektar geschädigter Wälder wiederhergestellt werden. 2021 war Gambia das einzige Land weltweit, das knapp davorstand, all seine Pariser Klimaschutzverpflichtungen zu erfüllen.
M. Ö.
Anwält:innen der Natur. Im Falle der Natur geht es u. a. um die Frage, wer diese repräsentiert, da die betroffenen Tierarten, Flüsse oder Berge naturgemäß nicht selbst vor Gericht erscheinen können. In Ecuador kann jede:r einzelne und jede Vereinigung im Namen der Natur Gerichtsprozesse initiieren. Einen anderen Weg beschreitet Neuseeland: Das Parlament des Inselstaates ernannte zwei Vormünder für den Fluss Whanganui, ein Mitglied der indigenen Māori sowie ein Mitglied der neuseeländischen Regierung. Sie vertreten das Ökosystem vor Gericht, sind aber auch Ansprechpersonen für Planungs- und Mediationsverfahren, damit etwa Infrastrukturprojekte nicht gegen die Rechte der Natur verstoßen und das Ökosystem Fluss gefährden.
Auch in anderen Ländern wurden mittlerweile Bestandteile der Natur zu Rechtssubjekten erklärt: Etwa in Kolumbien der Fluss Atrato, die Region Amazonien sowie Páramo, ein moorartiges Ökosystem. Der indische Fluss Ganges und einer seiner Nebenflüsse bekamen im Bundesstaat Uttarakhand 2017 den Status einer juristischen Person zugestanden. Damals wurde entschieden, Vergehen an diesen beiden Flüssen seien ebenso zu ahnden wie solche gegen Menschen. Dieser Rechtstatus wurde jedoch wenig später vom Obersten Gerichtshof Indiens wieder aufgehoben.
Erste Schritte in Europa. In Europa wurde inzwischen die Salzwasserlagune Mar Menor bei Murcia in Südostspanien zum ersten Ökosystem, dem der Status als Rechtsperson zuerkannt wurde. Das Ökosystemstand vor dem Kollaps, vor allem der Düngemittelabfluss der Landwirtschaft führte zu Sauerstoffarmut und zum Tod der Fischpopulation. Die Rechtsprofessorin Teresa Vicente Giménez schrieb daraufhin 2019 in Zusammenarbeit mit Umweltschutzorganisationen einen Gesetzesentwurf für die Rechtspersönlichkeit der Lagune. Sie sammelten mehr als 640.000 Unterschriften, sodass die Angelegenheit im nationalen Parlament behandelt werden musste. Zwei Jahre später erklärte das spanische Parlament das Mar Menor zu einem Ökosystem mit eigenen Rechten.
Menschenrechts- und Umweltaktivistin Arruda Miranda sieht die Initiativen zur Stärkung der Rechte der Natur in Europa als wichtigen Schritt. Dennoch dürfe
man nicht nur auf Zerstörung reagieren. „Es muss nicht so weit kommen, damit wir endlich verstehen, dass wir ein Teil der Natur und miteinander verbunden sind“, sagt sie. Sie gelte es zu schützen, sei es durch neue Rechte oder Ansätze wie dem Buen Vivir, die unser Denken und Handeln leiten.
Wissenswert
Unter folgendem Link findet sich eine Auflistung (auf Englisch) von Gemeinden, Regionen und Länder, in denen Gesetze und Regulierungen zu Rechten der Natur bestehen bzw. es Vorhaben dazu gibt: harmonywithnatureun.org/rightsOfNature
Dossier-Literatur
Adieu Anthropozän – willkommen im Kapitalozän!
Gastkommentar von Ernst Langthaler
in Der Standard, 8. April 2024
tinyurl.com/3ujwhf75Das Meer klagt an!
Der Kampf für die Rechte der Natur.
Laura Burgers und Jessica den Outer
S. Hirzel Verlag 2023Der Fluch der Muskatnuss
Gleichnis für einen Planeten in Aufruhr.
Amitav Ghosh
Matthes & Seitz Berlin Verlag 2023Die Natur hat Recht
Wenn Tiere, Wälder und Flüsse vor Gericht ziehen – für ein radikales Umdenken im Miteinander von Mensch und Natur.
Elisabeth Weydt
Knesebeck Verlag 2023Rechte für Flüsse, Berge und Wälder
Eine neue Perspektive für den Naturschutz?
Matthias Kramm (Hg.)
oekom Verlag 2023The Geopolitics of Green Colonialism
Global Justice and Ecosocial Transitions.
Miriam Lang, Mary Ann Manahan, Breno Bringel (Hg.)
Pluto Press 2024
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.