Die Idee eines „Bretton Woods II“ fasziniert Politik und ExpertInnen seit dem Ausbruch der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise. Sogar Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy und der britische Premierminister Gordon Brown riefen im vergangenen Oktober dazu auf: Zu einer Neugestaltung der internationalen Finanz- und Wirtschaftsarchitektur wie bei der Konferenz in Bretton Woods im US-Bundesstaat New Hampshire von 1944, als die Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit festgelegt wurde. Mittlerweile gibt man sich offiziell weniger geschichtsträchtig. Dafür fand Ende Juni die so genannte „UN-Konferenz über die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf die Entwicklung“ statt, die vergangenen Dezember in diesem Geiste einberufen wurde.
Dieser UN-Finanzgipfel, eigentlich für Anfang Juni geplant, stand jedoch unter keinem guten Stern, musste verschoben werden und dürfte (nach Redaktionsschluss; Anm.) in Sachen Bretton Woods II mit hoher Wahrscheinlichkeit eher enttäuschend geendet haben. Viel war im Grunde nicht zu erwarten. Wie James Boughton, ein Historiker des Internationalen Währungsfonds (IWF) in einem Rückblick auf die vergangenen hundert Jahre Wirtschaftsgeschichte feststellte, beruhte ein Erfolg entsprechender Initiativen stets darauf, dass die wichtigen Länder sich über die Probleme und ihre Lösungen einig waren.
Die wichtigen Länder von heute finden sich allesamt in der „Gruppe der 20“, dem neuen Surrogat einer Weltregierung. Wie weit der Konsens innerhalb dieser Gruppe reicht, kann man den Ergebnissen des letzten G-20-Gipfels von Anfang April entnehmen – wie er erweitert werden könnte, indem man 172 weitere Länder (die restlichen UN-Mitglieder) mit an den Tisch nimmt, ist rätselhaft.
G-20: Kein Weg zurückDie Gruppe der 20 ist die einzige wirklich neue „Institution“, die im Zuge der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise etabliert wurde. Die Entwicklungsländer innerhalb der G-20, insbesondere die „BRICs“ (Brasilien, Russland, Indien, China), sind dadurch zu zentralen Akteuren aufgestiegen. Und zwar dauerhaft, was sich auch in ihrer Aufnahme in den FSB und (Anfang Juni) in den Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht ausdrückt. Der Legitimitätszuwachs gegenüber dem bisherigen „Klub der Reichen“, der G-7 bzw. G-8 (plus Russland) ist unbestreitbar.
G-7 / G-8: USA, Japan, Deutschland, UK, Frankreich, Italien, Kanada + Russland.
G-20: Die G-8 plus EU, Südkorea, Türkei, Australien, China, Indien, Brasilien, Indonesien, Saudi-Arabien, Südafrika, Mexiko, Argentinien.
| G-8 | G-20 |
% Weltbevölkerung | 17,4% | 72,8% |
% Weltwirtschaftsprodukt (2007) | 65,2% | 88,5% |
% Weltwirtschaftsprodukt (Kaufkraftparitäten, 2007) | 56,4% | 83,9% |
Quelle: IWF |
Weitgehend unumstritten war jedenfalls, dass einige der Vorschläge aus dem Bericht einer von Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz geleiteten ExpertInnenkommission an die UN-Konferenz derzeit keine Chance auf Realisierung haben. Und zwar vor allem jene, die auf die Schaffung neuer supranationaler Institutionen hinauslaufen wie eines UN-Rats für globale wirtschaftliche Koordination, einer Obersten Regulierungsbehörde für Finanzprodukte oder gar einer Globalen Finanzbehörde, die die Kompetenzen des neuen Financial Stability Board (FSB, siehe unten) und des Basler Ausschuss für Bankenaufsicht der Bank für internationalen Zahlungsausgleich in sich vereinen würde.
Generell sind derartige Institutionen mit Souveränitätsverlust verbunden und daher bei einflussreichen Regierungen unbeliebt: Ihre Kosten-Nutzen-Rechnung könnte negativ ausfallen. Im konkreten Fall hat aber auch die Dramatik der Krise pragmatische Antworten begünstigt. Ist Eile geboten, geht man zuerst auf nationaler Ebene vor, schließt allenfalls bilaterale Vereinbarungen und nutzt für internationale Maßnahmen jene Institutionen, die bereits existieren. Genau das war seit Ausbruch der Krise auch zu beobachten.
Vorerst hat der Notfallcharakter der Situation sogar einen Rückschritt im Sinne einer Re-Nationalisierung bewirkt, angefangen von den Ad-hoc-Rettungsaktionen für Banken und Versicherungsunternehmen in den USA und der dadurch ausgelösten Kettenreaktion unterschiedlicher Stützungsmaßnahmen in anderen reichen Ländern. Aber etwa auch in punkto Eigenkapital von Banken, der Regulierung von Hedgefonds oder von Kreditratingagenturen haben die national unterschiedlichen Reaktionen die Versuche einer Vereinheitlichung der Standards um Jahre zurückgeworfen, beklagt die International Organization of Securities Commissions (IOSCO), der weltweite Verband der Börsenaufsichtsbehörden.
Internationale Liquidität wiederum wurde rasch auch über bilaterale Vereinbarungen bereitgestellt, ganz ohne IWF. Beispiele sind etwa die Devisenswaps der US-Notenbank (Federal Reserve) mit Mexiko oder die der chinesischen Zentralbank, die allein im März entsprechende Vereinbarungen mit Weißrussland, Argentinien und Indonesien über jeweils mehrere Mrd. Dollar geschlossen hat. Eine vergleichbare Entwicklung auf regionaler Ebene ist die Bildung eines Währungspools von 120 Mrd. Dollar durch die ASEAN+3, der südostasiatischen Staatengemeinschaft plus China, Japan und Korea.
Die zusätzlichen Mittel für die Stabilisierung der internationalen Finanz- und Kapitalmärkte und die Stützung der Entwicklungsländer (insgesamt 850 Mrd. Dollar) werden laut Beschluss der G-20 über den IWF, die Weltbank und die übrigen multilateralen Entwicklungsbanken vergeben. Schließlich wurde das im Gefolge der Asienkrise 1999 gegründete Financial Stability Forum mit zusätzlichen Aufgaben, einem neuen Namen („Financial Stability Board“) und der Erweiterung der Mitgliedschaft auf alle G-20-Länder aufgewertet. Mit dem FSB soll etwa der jüngste Wildwuchs bei den Standards wieder in den Griff bekommen werden.
Ob das alles bereits ausreichen wird, die aktuelle Krise zu überwinden, geschweige denn Wiederholungsfälle in Zukunft auszuschließen, ist fraglich. Zumindest scheinen einige der Maßnahmen tatsächlich zu bewirken, was sie sollen. Die neue Flexible Credit Line (FCL) des IWF etwa, die abgesehen von der bisherigen Performance eines Landes keine Bedingungen beinhaltet und der Krisenvorbeugung dienen soll, funktioniert wie vorgesehen. Entsprechende Kreditrahmen wurden seit April bereits Mexiko (31,5 Mrd. Dollar), Polen (13,7 Mrd. Dollar) und Kolumbien (ca. 7 Mrd. Dollar) zugestanden. Ohne dass auch nur ein einziger Dollar geflossen wäre, konnten die Wechselkurse stabilisiert werden, und das in zwei Fällen sogar trotz gleichzeitiger Zinssenkungen. Wird die Kreditvergabe auch anderweitig von der alten prozyklischen Konditionalität befreit, könnte der IWF tatsächlich wieder brauchbar werden.
Wofür es noch keine offizielle Lösung gibt, ist das Problem der Akkumulation von Währungsreserven durch Schwellenländer und Rohstoffexportländer. Die BRIC-Länder, allen voran China, halten Währungsreserven von derzeit 2.800 Mrd. Dollar, ein großer Teil davon in Form von US-Staatsanleihen. Sie sind damit Gläubiger der USA und anderer reicher Länder, wobei die niedrigen Zinsen zumal im Fall von US-Staatsanleihen das Verlustrisiko aus einer Abwertung des Dollar (etwa im Gefolge der hohen Neuverschuldung der USA) keineswegs reflektieren. Daher auch der Ruf nach einer neuen internationalen Reservewährung, der zuletzt insbesondere aus Russland ertönte.
Doch auch hier bietet sich – über die beschlossene Verdreifachung der IWF-Mittel auf 750 Mrd. Dollar – vorläufige Abhilfe an, denn die Aufstockung soll auch durch die erstmalige Emission von auf Sonderziehungsrechte (SZR) lautenden IWF-Anleihen finanziert werden. (Der Wert der SZR, einer bloßen Rechnungseinheit wie früher der ECU, beruht nur zu 44% auf dem Dollar.) Indem sie einen Teil ihrer Reserven in IWF-Anleihen umschichten, werden sich sowohl China (50 Mrd.), Russland (10 Mrd.), Brasilien (10 Mrd.), voraussichtlich auch Indien und Mexiko praktisch kostenlos mehr Einfluss auf den IWF verschaffen, ihr Wechselkursrisiko verringern und den USA eine Rute ins Fenster stellen können – drei Fliegen mit einer Klappe.
50 Mrd. Dollar sind übrigens das Fünffache der derzeitigen IWF-Quote Chinas, was die Bedeutung der beschlossenen Stimmrechts- und Quotenreform im IWF zugunsten der Entwicklungsländer einigermaßen relativiert. Der Spielraum, den die existierenden Institutionen bieten, ist offenbar beachtlich – was auch nicht gerade für ein Bretton Woods II spricht.