Warum Wien kein Chinatown hat

Von Sebastian Rosenauer · · 2023/Jul-Aug
„Chinatown" gibt es in Wien nur als Restaurant, und zwar im siebten Bezirk. © Douglas Sprott / CC BY-NC 2.0

Wieso das „chinesische Wien“ anders ist und was die digitale Kommunikation für Menschen der chinesischen Diaspora verändert hat, erklärt die Sinologin Fariba Mosleh im Interview.

China wird global gesehen ein immer wichtigerer Player, Details über die Diaspora hört man wenig. Sie haben 2012 eine Feldstudie zu „Chinatown“ und Wien gemacht. Worum ging es Ihnen in der Auseinandersetzung mit der chinesischen Community?

Vorab, ich würde nie von einer Community sprechen, sondern immer im Plural von Communities. Die sind sehr heterogen: Es gibt unterschiedliche Einwanderungsgeschichten und Beweggründe, nach Österreich zu kommen. Den Begriff Chinatown verwende ich, weil er bekannt ist und den meisten ein gewisses Bild vermittelt. In meiner Arbeit ging es mir darum, genau dieses Bild zu dekonstruieren. Denn: Wiens Chinatown mit der New Yorks gleichzusetzen ist aufgrund der unterschiedlichen Entstehungsgeschichten unmöglich.

Was ist in Wien anders?

Chinatown in New York ist aufgrund einer US-Politik der Segregation Ende des 19. Jh. entstanden. Aufgrund einer gezielten, gesetzlich verankerten Ausgrenzungspolitik mussten Chines:innen in abgegrenzten Enklaven leben. Die Bezeichnung Chinatown wurde dort aktiv eingesetzt, um symbolisch und physisch Grenzen zu schaffen. Wien hat sich bis heute dezidiert gegen eine Ghettoisierung entschieden. Auch unter Austrochines:innen wurde einst, als der Begriff diskutiert wurde, argumentiert, dass es ja auch keine Turkishtown oder Indiatown in Wien gäbe.

© Karin Hackl Photos

Fariba Mosleh hat Kultur- und Sozialanthropologie sowie Sinologie studiert. Sie arbeitet an der thematischen Schnittstelle von Kunst, Kultur und Diversität und ist zurzeit als Kuratorin der Wiener Brunnenpassage tätig.

Es gab einmal die Überlegung, ein Drachentor am Anfang der Kettenbrückengasse zu errichten, wie man es von anderen Städten kennt. Hat sich da dann auch die Stadt Wien dagegen ausgesprochen?

Ja, die Stadtregierung hat gesagt, wir sind eine Stadt der Vielfalt und es soll kein Viertel geben, das nur einer Ethnie zugeschrieben wird. Innerhalb der Communities gab es da ganz unterschiedliche Betrachtungsweisen: Ein paar ansässige Geschäftsleute hätten dieses Tor gerne gehabt, denn das lockt natürlich Tourist:innen an.

Das chinesisch geprägte Viertel Wiens ist also nicht durch eine Politik der Isolation entstanden, sondern durch Selbstorganisation und das sukzessive Zuziehen von chinesischen Betrieben und Restaurants. Es ist eher ein Geschäftsbezirk. Die Menschen machen dort ihre Erledigungen, aber sie wohnen in der ganzen Stadt verteilt.

Welche Einwanderungsgeschichten und Migrationsformen gibt es innerhalb der chinesischen Communities in Wien und welche Veränderungen sehen Sie?

Es gibt Chines:innen, die in China geboren sind, ins Ausland gehen und dort bleiben. Es gibt jene, die zurückkehren und dann gibt es Menschen, die chinesische Eltern haben, aber in Österreich geboren sind.

Die ältere Generation ist oft in der Gastronomie tätig, weil das mitunter das einzige war, das sie machen konnte. Bei der jüngeren Generation gibt es unterschiedliche Migrationsmuster und auch soziokulturelle Herkunftsorte. Einige studieren, machen Kunst oder eröffnen Concept Stores.

Vom Reich der Mitte nach Wien   

Die erste Periode erhöhter Migration von China nach Österreich begann nach der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik in den 1980er und 1990er Jahren. Danach folgten Verwandte und Bekannte den schon Ausgewanderten nach Österreich bzw. Wien.  

Im Jahr 1981 wurden 800 Menschen mit chinesischer Staatsbürgerschaft in Österreich registriert. Heute leben laut Statistik Austria etwa 14.000 chinesische Staatsbürger:innen in Österreich, über 8.000 davon in Wien, 1.500 in der Steiermark.  Übrigens: Beijing schätzt die weltweite Zahl der chinastämmigen Menschen außer­halb der Volksrepublik auf 60 Millionen und betrachtet sie, unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft, allesamt als Angehörige Chinas.

Einer der Gründe, warum es gerade in der Gegend rund um die Kettenbrückengasse zur Herausbildung eines chinesischen Geschäftsbezirks gekommen ist, war die zentrale Lage und der Naschmarkt. Der liegt nahe am ersten Bezirk und ist gut mit der Autobahn verbunden, was wichtig ist für die Anlieferung frischer Produkte. Rundum siedelten sich noch andere Betriebe von Chines:innen an, damit das Einkaufen mit Friseur- oder Restaurantbesuchen verbunden werden konnte.  S. R.

Wie ist die Beziehung der Austrochines:innen zur Volksrepublik China?

Das ist sicher individuell sehr unterschiedlich. Heimweh war vor allem bei der älteren Generation ein großes Thema. Mit den Sozialen Medien und der digitalen Kommunikation ist es jetzt viel leichter, Kontakt zu den Menschen in China aufrechtzuerhalten. Ich kann mir vorstellen, dass das die Verbindung zum Land nicht nur scheinbar, sondern sehr aktiv stärkt.

In der Forschung wird oft von einem neuen chinesischen Nationalismus gesprochen. Haben Sie das bei Austrochines:innen wahrgenommen?

Damit habe ich mich nicht wissenschaftlich auseinandergesetzt. Digitale Kanäle wie WeChat oder der chinesische TV-Sender CCTV und die Einflussnahme aus China sind sicher existent. Für die Volksrepublik ist die Diaspora ein wichtiger Teil der Nation. Österreich hat hier keine politische Linie, wie damit umgegangen werden soll. Wer in Österreich nicht wählen darf, beschäftigt sich vielleicht eher mit der chinesischen Politik. Direkte demokratische politische Mitbestimmung ist in China für die Menschen zwar nicht möglich, aber es gibt einen gewissen politischen Aktivismus.

Haben die digitalen Kanäle die Bedeutung einer möglichen physischen „Chinatown“ verändert?

Ich habe das Gefühl, dass die Zahl von Geschäften zurückgegangen ist. Früher gab es in der Gegend um die Kettenbrückengasse eine Rechtsberatung, den Frauenverein, Deutschschulen und viele andere Treffpunkte. Jetzt kann man viele Angebote auch mit dem Handy abrufen.

Deswegen denke ich, dass die Bedeutung von Geschäften, mit Ausnahme von Restaurants und Lebensmittelshops, zurückgegangen ist. Sie sind jetzt weniger um den Naschmarkt konzentriert, wobei sich Aktivitäten immer schon über ganz Wien verteilten.

2014 erschien Fariba Moslehs Buch
Vienna Chinatown INvisible.
Eine Reise durch das chinesische Wien
im Praesens Verlag.

Zu welchen Aspekten würden Sie heute gerne forschen?

Einerseits zum neuen anti-asiatischen Rassismus. Seit der Coronapandemie wurden diskriminierende historische Narrative und Ressentiments wieder groß. Früher wurden Chines:innen zwar auch gerne mit der Mafia oder dem Untergrund in Verbindung gebracht, etwa in TV-Sendungen wie dem Wiener „Tatort“. Aber seit COVID-19 ist eine neue Ebene dazugekommen.

Andererseits war die Pandemie eine totale Zäsur, was den Studierendenaustausch betrifft, und hatte sicher Auswirkungen auf die Migrationsbewegungen. Das würde mich genauso interessieren.

Interview: Sebastian Rosenauer

Sebastian Rosenauer ist freier Journalist und schreibt für verschiedene österreichische Medien.

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