Vietnam gehört zu den über Jahre am stärksten wachsenden Volkswirtschaften Asiens. Doch Korruptionsfälle und Kritik an der Menschenrechtslage bringen Unruhe – und den Wirtschaftspartner EU in ein Dilemma.
Jeden Montag in der Früh Flaggenparade, regelmäßige Gymnastikeinheiten am Arbeitsplatz neben Nähmaschine und Bügeleisen, als Arbeitsmontur rote T-Shirts mit gelbem Kommunistenstern: Der Standort der Firma „Garco 10“ am Stadtrand von Vietnams Hauptstadt Hanoi erfüllt jedes landläufige Klischee einer Fließbandfabrik in einem asiatischen Billiglohnland.
Als Spezialist für die Herstellung von Uniformen gegründet, produziert Garco 10 heute an 18 Standorten im Land für international bekannte Modemarken. In der Zentrale in Hanoi hat man sich in zwei mehrstöckigen Fertigungshallen auf Hemden und Anzüge spezialisiert. Bis zu 80.000 Stück verlassen pro Monat das Haus, in dem insgesamt 1.600 Mitarbeiter:innen beschäftigt sind. Sie sitzen eng an eng, reden wenig, arbeiten flink. Acht Stunden pro Tag, für den Mindestlohn von umgerechnet 270 Euro.
„Dể năng suất cao hơn“ – „Für höhere Produktivität“ – steht in großen Lettern auf der Tafel, die über den Tischreihen der Näherinnen von der Decke baumelt. Ähnliche Motivationssprüche und -parolen finden sich auch über anderen Produktionseinheiten und an den Säulen der Fabrikhalle. Immer geht es dabei um ein Beschwören von Einheit, Fleiß, Disziplin und Leistung. Ein Mantra, das für das gesamte südostasiatische Land gilt.
Neue Konkurrenten. Vietnam zählt – wie Indonesien, Malaysia und Thailand – zu den „neuen Tigerstaaten“. Sie sind seit den 1980er Jahren den Vorbildern Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur gefolgt, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ein enormes Wirtschaftswachstum auszeichneten und diesbezüglich zu echten Konkurrenten für die „alten“ Industrieländer in Nordamerika und Europa heranwuchsen.
Im Fall von Vietnam erzählen die Konjunkturdaten die ökonomische Erfolgsgeschichte: Schon vor der Pandemie gehörte das Land zu den über Jahre am stärksten wachsenden Volkswirtschaften Asiens. 2019 legte das BIP um sieben Prozent zu. Während der beiden Pandemiejahre sackte das Wachstum auf drei Prozent rapide ab.
Der „Corona-Knick“ verdeutlichte auf einen Schlag, wie abhängig sich westliche Konzerne längst von der als Alternative zu China aufgebauten neuen „Fabrik der Welt“ gemacht hatten. So lässt Nike fast die Hälfte seiner Schuhe in Vietnam fertigen, bei Adidas kamen von dort zuletzt 40 Prozent der gesamten Sportschuh-Produktion. Wochenlange Fabrikschließungen trafen die Sportartikelhersteller daher mit voller Wucht. Um die Lieferketten nicht gänzlich abreißen zu lassen, kasernierten vietnamesische Fertigungsfabriken ihre Arbeiter:innen teilweise wochenlang in Zelten am Betriebsgelände ein.
Vietnam
Hauptstadt: Hanoi
Fläche: 331.210 km2 (rund vier Mal größer als Österreich)
Einwohner:innen: 98,5 Millionen
Human Development Index (HDI): Rang 115 von 191 (Österreich: 25)
BIP pro Kopf: 3.756,5 US-Dollar (2021, Österreich: 53.637,7 US-Dollar)
Regierungssystem: Einparteiensystem; die Nationalversammlung hat Anfang März den 52-jährigen Vo Van Thuong mit 487 von 488 Stimmen zum neuen Präsidenten gewählt.
Lebensnerv Landwirtschaft. Trotz dieser starken Industrie bleibt Vietnam aber ein von der Landwirtschaft dominiertes Land. 60 Prozent der Bevölkerung sind im Agrarbereich tätig. Er ist ein Lebensnerv des südostasiatischen 98-Millionen-Einwohner:innenlands, weshalb der Staat während der Pandemie sogar Düngemittel subventioniert hat, um den Sektor am Laufen zu halten. Das hat gewirkt.
Nach Corona und dem damit verbundenen Einbruch der Konjunktur betrug das Wirtschaftswachstum 2022 bereits wieder knapp acht Prozent – das stärkste Plus seit zehn Jahren, obwohl zuletzt Auswirkungen der Inflation und des Ukrainekriegs zu spüren waren: Weil Bestellungen aus Europa ausblieben, gingen auch die Exporte zurück. Die vietnamesische Regierung reagierte mit öffentlichen Investitionen, um die Ausfälle zu kompensieren und weiterhin substanzielles Wachstum sicherzustellen.
Auf Kosten von Freiheiten. In der sozialistischen Republik geht das ohne viele Umwege. Es herrscht ein autokratischer Ein-Parteien-Kommunismus, der keinen Widerspruch duldet. Die Gründung oder Tätigkeit unabhängiger Gewerkschaften und anderer Organisationen oder Gruppen, die als Bedrohung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei angesehen werden, ist verboten. Amnesty International zufolge sollen zwischen 2013 und 2016 mindestens 429 Todesurteile vollstreckt worden sein. „Die Behörden sperrten den Zugang zu sensiblen politischen Websites und Seiten in den sozialen Medien und übten Druck auf soziale Medien und Telekommunikationsunternehmen aus, um regierungs- oder parteikritische Inhalte zu entfernen oder einzuschränken“, kritisiert Human Rights Watch in seinem aktuellen Bericht. Inhaftierungen von Journalist:innen stehen weiterhin auf der Tagesordnung. Daran hat bislang auch internationale Kritik nichts geändert. Vietnam liegt auf der globalen Rangliste in Sachen Pressefreiheit von „Reporter ohne Grenzen“ aktuell auf Platz 174 von 180 Staaten.
Dem langen, strengen Arm des Staates unterwerfen sich selbst internationale Social Media-Giganten. So lobte das Ministerium für Information und Kommunikation Facebook und Google dafür, im ersten Halbjahr 2021 insgesamt über 3.000 Konten, Videos und Kanäle entfernt zu haben, die „Führer der Partei und des Staates verzerrten“. Facebook räumte in einer Mitteilung an Human Rights Watch im November 2021 ein, dass „wir einige Inhalte in Vietnam einschränken, um sicherzustellen, dass unsere Dienste für Millionen von Menschen verfügbar bleiben“.
Korruptionsaffären. Ein Garant für innenpolitische Ruhe ist das aber alles nicht. Erst Anfang März hat das Politbüro, das die zentralen Entscheidungen trifft, mit Vo Van Thuong einen neuen Präsidenten installiert. Sein Vorgänger musste nach weniger als zwei Jahren im Jänner seinen Posten räumen. Er war tief in eine Korruptionsaffäre rund um Corona-Maßnahmen verstrickt.
Mehrere ranghohe Politiker:innen, Beamt:innen und Manager:innen wurden in jüngster Vergangenheit im Rahmen einer scharfen Antikorruptionskampagne vor Gericht gebracht, einige Minister:innen verloren ihre Jobs. Die Reputation als politisch stabiles und attraktives Land für ausländische Investitionen soll nicht beschädigt werden.
Die Bemühungen um ein gutes Image und wirtschaftspolitischen Fortschritt sind im Inneren und den Außenbeziehungen spürbar. Als UN-Mitglied hat sich Vietnam der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und der Umsetzung ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele verpflichtet. Der Anteil jener, die unter der Armutsgrenze leben, sinkt, der Mittelstand wächst. Seit 2019 gibt es ein umfassendes europäisch-vietnamesisches Freihandelsabkommen, das fast sämtliche Zölle beseitigt.
Diese Entwicklungen untermauert Vietnams Stellung als Wachstumsmarkt. Es macht aber auch das Dilemma der EU deutlich: Einerseits will sie ihren wirtschaftlichen Einfluss nutzen, um die Regierung zu Zugeständnissen in Sachen Demokratie und Menschenrechte zu bewegen. Andererseits droht sie sich damit selbst ins Abseits zu manövrieren, da Vietnam sich von Europa ab- und verstärkt den USA oder China zuwenden könnte.
Klaus Höfler arbeitet als freier Journalist in den Bereichen Wirtschaft, Reisen und Politik für verschiedene Magazine und Zeitungen.
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