Sie war Feministin der ersten Stunde, Anarchistin und Gewerkschaftsführerin in der Karibik, Verfechterin der freien Liebe und schon vor hundert Jahren Aktivistin für Vegetarismus: Luisa Capetillo (1879-1922).
Das 4.000 Jahre währende Patriarchat beenden. Eine Welt schaffen, in der alle Menschen frei sind und respektiert werden – egal woher sie kommen oder wen sie lieben. Und: Männerkleidung tragen. Was Luisa Capetillo vor mehr als hundert Jahren forderte, war für viele Menschen ihrer Zeit völlig utopisch.
Mit ihrem politischen Engagement für Frauenrechte, ihren radikalen Schriften für eine freie Gesellschaft und ihrem persönlichen Leben als Feministin und Anarchistin schockierte sie viele – und inspirierte und mobilisierte tausende Frauen und Arbeiter*innen.
Geboren wurde Capetillo 1879 in Puerto Rico – in eine gesellschaftliche Situation, die frauenfeindlich, sozial ungleich und kolonial geprägt war. Frauen besaßen damals weder das Wahlrecht noch sonst irgendwelche politischen Rechte. Die große Mehrheit der Bevölkerung war analphabetisch und lebte in Armut.
Capetillo wuchs in einem kleinen Dorf im Norden der Insel nahe der Stadt Arecibo auf. Ihre spanisch-französischen Eltern waren in der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Puerto Rico gekommen. Beide schlugen sich mit Gelegenheitsjobs durch, ihre Mutter als Büglerin, ihr Vater als Fabriksarbeiter. Von ihrer Mutter lernte sie Lesen und Schreiben, eine formale Schulbildung erhielt das Mädchen nicht.
Verlernen von Normen. Vermutlich deshalb wurde sie zu einer glühenden Verfechterin der Bildung für alle. Bildung bezeichnete sie als „Mutter der Freiheit“, sah sie als Schlüssel zum „Verlernen“ und Neudenken sozialer Normen an.
Als junge Frau arbeitete sie als Lektorin und als Vorleserin in Zigarrenfabriken. Dort las sie den Arbeiter*innen aus der Zeitung vor, und aus Werken von Victor Hugo, Leo Tolstoi und der anarchistischen Erzieherin Madeleine Vernet.
Weil sie als eine der ersten Frauen in der Öffentlichkeit Hosenanzüge trug, wurde sie mehrmals verhaftet.
Anfang des 20. Jahrhunderts wurde sie zu einer legendären Figur der karibischen Arbeiter*innenbewegung, reiste als Vortragende und Aktivistin zunächst durch Puerto Rico, später nach New York, Florida, Kuba und in die Dominikanische Republik. Dabei trat sie sowohl für Frauenrechte als auch für die freie Liebe ein.
Sexuelle Freiheit und die Rechte der Arbeiter*innen stellte sie in den Mittelpunkt ihrer politischen Theorie und Praxis. Für sie war beides – Geschlecht und Klasse – geprägt von strukturellen Ausbeutungsverhältnissen, aus denen sich Frauen und Männer gemeinsam befreien müssen.
Das Besondere daran: Sie stellte Gleichberechtigung in den Kontext intimer Beziehungen. Dem Ideal der freien Liebe versuchte sie sich auch in der Praxis anzunähern: Sie bekam mehrere Kinder und lebte verschiedene Liebesbeziehungen, ohne je zu heiraten.
Mit 30 Jahren veröffentlichte Capetillo ihr erstes Buch. Der Titel: „Ensayos Libertarios“ (Befreiungsaufsätze). 1911 folgte „Mi Opinión: Sobre las Libertades, Derechos y Deberes de la Mujer“ (Meine Meinung zu den Freiheiten, Rechten und Pflichten der Frau), das als erste feministische Abhandlung in Puerto Rico und eine der ersten in Lateinamerika und der Karibik gilt. Im Prolog zu „Mi Opinión“ merkt sie an, dass sie ihre Ideen zwar als utopisch, aber nicht als unmöglich ansieht.
Aktuell und radikal. Capetillo war durch und durch Gewerkschafts- und Frauenaktivistin, „Propagandistin, Journalistin und Schriftstellerin“, wie sie selbst schrieb, beteiligte sich an Streiks und Demonstrationen, verfasste Essays sowie Theaterstücke und gab Zeitschriften heraus, etwa die von ihr 1910 gegründete Zeitschrift „La Mujer“ (Die Frau).
Literatur-Tipp
Norma Valle-Ferrer: Luisa Capetillo, Pioneer Puerto Rican Feminist (auf Englisch)
Peter Lang Publishing, New York 2006, 92 Seiten, € 35,70
Einer ihrer großen Erfolge: Die Mobilisierung von mehr als 40.000 Arbeiter*innen der Zuckerindustrie 1916 für den fünfmonatigen Zuckerstreik, der zu Lohnerhöhungen führte und als Meilenstein in die Geschichte der puerto-ricanischen Arbeiter*innenbewegung einging. „Dieser Planet gehört uns allen und ist nicht das Privileg einiger weniger“, so Capetillo damals.
In vielen Aspekten war sie ihrer Zeit weit voraus. So eröffnete sie 1919 in New York ein vegetarisches Restaurant, das zu einem Treffpunkt für spanischsprachige Sozialist*innen und Anarchist*innen wurde. 1922 starb sie an Tuberkulose.
„Es ist erstaunlich, dass Luisa Capetillo ihr Leben so lebte, wie sie es tat, zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts“, schreibt ihre Biografin Norma Valle-Ferrer. „Ihre fortschrittlichen Ideen und ihr Lebensstil rufen zunächst Erstaunen, dann Respekt und Bewunderung hervor, weil sie enorme persönliche Opfer brachte, um ein anderes Leben zu führen und für ihre Vision einer neuen Welt zu kämpfen.“
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