Fakhmiddin Tschaiganow ist 27 Jahre alt und spricht vier Sprachen: seine Muttersprache Usbekisch; das damit verwandte Türkisch, das er lernte, als er auf dem türkischen Gymnasium in Taschkent Abitur machte; Russisch, die Sprache seines ehemaligen Heimatlandes, der Sowjetunion; und schließlich Englisch. Ähnlich wie die Jahresringe eines Baumes repräsentieren diese vier Sprachen die einzelnen Phasen der Sprachenpolitik, die sein Heimatland Usbekistan in der jüngeren Vergangenheit durchlaufen hat: Russisch als Sprache der Bildung und der Politik auch in Usbekistan, das bis 1991 Teilrepublik der Sowjetunion war; Usbekisch und Türkisch, als das Land nach Erlangung der Unabhängigkeit die eigene Kultur und Sprache fördern, das Russische zurückdrängen und sich an der Türkei orientieren wollte; sowie Englisch, das für die versuchte Öffnung zum Westen steht. Auch für Tschaiganow selbst hat sich die Bedeutung der vier Sprachen im Laufe der politischen Entwicklung geändert. 2002 sagte er noch: „Ich habe Russisch eigentlich nur wegen der russischen Mädchen in Taschkent gelernt.“ (Rund eine Million Russen leben in Usbekistan, die Mehrzahl in der usbekischen Hauptstadt.)
Heute hält er Russisch für seine wichtigste Sprache. Denn Russisch ist die Sprache, die in seiner Firma, einer Werbeagentur, die zur Distriktverwaltung von Taschkent gehört, ausschließlich gesprochen wird. Und so sagt er heute: „In Stellenanzeigen lese ich fast immer, es wird bevorzugt, wenn die Bewerber Usbekisch sprechen, aber Russisch ist ein Muss, und ich denke, das wird auch in Zukunft noch lange so bleiben.“
Russisch ist in den zentralasiatischen vormaligen Republiken der Sowjetunion Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan und Tadschikistan nie ganz verschwunden, aber seine Renaissance zu fast alter Bedeutung wäre dort vor zehn Jahren noch mit einem Ausbruch patriotischer Gefühle oder zumindest mit Unverständnis quittiert worden. Heute ist diese Entwicklung nicht mehr zu übersehen.
„Ende der 1990er Jahre haben wir Feldforschung in den zentralasiatischen Republiken betrieben“, sagt die Linguistin Barbara Kellner-Heinkele. Sie ist Professorin am Institut für Turkologie der Freien Universität Berlin und hat zusammen mit dem Israelischen Forscher Jacob Landau das Standardwerk zur Sprachenpolitik dieser Region geschrieben. „Damals haben wir nicht nur in der politischen Klasse, sondern auch unter den ganz normalen Leuten einen Enthusiasmus für die De-Russifizierung und die Förderung der eigenen Sprache, Kultur und Identität erlebt. Vor kurzem waren wir wieder da und haben gemerkt, dass diese hochfliegenden Pläne völlig an den Rand gerückt sind. Fast alle haben uns gesagt: ‚Das ist nicht mehr wichtig.‘ Wichtig dagegen war die katastrophale wirtschaftliche Situation und die Arbeitsmigration vor allem nach Russland.“
Für Barbara Kellner-Heinkele hat dies ganz konkrete geopolitische Ursachen: „Die zentralasiatischen Länder haben gemerkt, dass sie nicht einfach so konnten, wie sie wollten. Nach der Unabhängigkeit haben sie geglaubt, sie könnten ganz leicht den Zugang zu den westlichen Ländern, zur globalisierten Welt erreichen. Aber Russland hat ein enormes geopolitisches Interesse an der Region und hat dort großen Druck vor allem mit seiner Energiepolitik ausgeübt.“ Deshalb hätten die zentralasiatischen Länder eine Kurskorrektur vornehmen müssen.
Wie viele Länder in Afrika und anderswo haben damit die fünf zentralasiatischen Staaten lernen müssen, dass eine quasi-koloniale Situation nicht so einfach abzuschütteln ist. Schon in der Zeit der Perestroika, Ende der 1980er Jahre, war in vielen Kreisen in Zentralasien diskutiert worden, das Russische zurück zu drängen. Und unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 begannen die unabhängigen Regierungen, die De-Russifizierung in der Sprachenpolitik umzusetzen. Kasachisch, Usbekisch, Turkmenisch und Kirgisisch gehören zur Familie der Turksprachen und sind mit dem Türkischen verwandt. In Tadschikistan dagegen wird eine eng mit dem Persischen verwandte Sprache gesprochen. Auf dem ersten türkisch-zentralasiatischen Gipfel in Ankara 1991 wurde eine gemeinsame Sprachenkonferenz vorbereitet, die ein paar Monate darauf stattfand und deren einziger Tagesordnungspunkt die Einführung des lateinischen Alphabets in den zentralasiatischen Ländern war. Als Vorbild sollte offenbar der große Reformakt Mustapha Kemal Atatürks dienen, mit dem 1928 das westliche Alphabet in der Türkei eingeführt wurde. Turkmenistan und Usbekistan beschlossen die Reform, während Kasachstan und Kirgistan davor zurückschreckten.
Tadschikistan hatte damals schon einen anderen Weg eingeschlagen: den des Bürgerkrieges zwischen einem säkularen Lager und radikal-islamischen Kräften.
Schon in den Jahren der Perestroika war in Tadschikistan nämlich eine Debatte darüber geführt worden, ob das Land die kyrillische Schrift durch die arabische ersetzen sollte. Den Bürgerkrieg – und damit auch diese Debatte – gewann Ende der 1990er Jahre das post-kommunistische, pro-russische Lager. Seither ist der Einfluss Russlands und des Russischen wieder enorm, denn eine Million Tadschiken – das heißt jede/r sechste EinwohnerIn des Landes – leben nach Schätzungen als ArbeitsmigrantInnen in Russland.
Den radikalsten Bruch mit der sowjetischen Vergangenheit hat Turkmenistan vollzogen. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit führte das Land das lateinische Alphabet ein und hat heute die kyrillische Schrift am stärksten aus der Öffentlichkeit verdrängt. Saparmurat Nijazow, der ehemalige Erste Sekretär der Turkmenischen Sozialistischen Partei und damit höchster Stellvertreter Moskaus, hat in seiner sechzehnjährigen Präsidentschaft dem Land eine eigene, auf der fiktiven Ahnenreihe der osmanischen Sultane basierende Nationalgeschichte beschert.
Er schaffte den Fremdsprachenunterricht in den Schulen fast völlig ab. Das Rukhnama, ein vom ihm selbst geschriebenes Buch, wurde zu einer Art heiligem Buch stilisiert, das den russischen Einfluss für den Niedergang Turkmenistans verantwortlich macht. Zu einer Renaissance der turkmenischen Kultur und Sprache hat das aber auch nicht geführt, denn außer den Schriften des Turkmenbaschi wurden kaum andere Bücher veröffentlicht. Die Mehrzahl der Schulbücher stammt noch aus den 1960er Jahren, Rundfunk und Fernsehen brachten kaum mehr als Lobreden auf den Führer der Turkmenen. Erst nach dem Tod des Turkmenbaschi im Jahr 2007 hat der neue Präsident den radikalen Kurs des Landes etwas korrigiert.
Kasachstan dagegen, wo in der Sowjetzeit die kasachisch-stämmigen EinwohnerInnen in der Minderzahl waren, und Kirgistan, wo der Einfluss Moskaus immer noch groß ist, wählten gezwungenermaßen einen anderen Weg. Nach Schätzungen ist auch heute noch Russisch die Muttersprache von achtzig Prozent der Kasachen, von denen nur ein Teil Kasachisch als Zweitsprache spricht. Außerdem lebt dort eine große russisch-stämmige Minderheit, die nie Kasachisch gelernt hat.
Im vergangenen Jahr allerdings hat auch die kasachische Regierung eine Debatte losgetreten, wie die eigene Sprache weitere Verbreitung finden kann. Im Frühjahr wurde schließlich ein Konzept dazu vorgestellt.
In Usbekistan wiederum ist das fast babylonische Gewirr der Sprachen am deutlichsten ausgeprägt. Zwar hat die Regierung schon 1993 ein Gesetz zur Abschaffung der kyrillischen Schrift in Politik, Bildung und den Medien beschlossen, aber der Termin wurde seitdem mehrmals verschoben, und für viele BeobachterInnen ist es fraglich, ob diese Politik jemals konsequent umgesetzt werden wird. „Ob es der Regierung mit der Abschaffung der kyrillischen Schrift ernst ist, ist auch gar nicht entscheidend“, sagt die Linguistin Kellner-Heinkele. „Ausschlaggebend ist der enorme Lehrermangel. Außer in der Hauptstadt gibt es kaum mehr Russischlehrer, so dass die Kinder in vielen ländlichen Regionen, selbst wenn sie wollten, die Sprache gar nicht mehr lernen können.“
In Usbekistan prägt sich jedoch nicht nur ein immer größeres Stadt-Land-Gefälle heraus, sondern auch eine wachsende Kluft zwischen den Generationen. Fakhmiddin Tschaiganows Vater ist Verleger, Journalist und Poet, der ausschließlich in Usbekisch schreibt, und seine Mutter hat nie Russisch gelernt. Sie kommt aus einer traditionellen Familie, in der es nicht üblich war, dass Frauen eine höhere Bildung bekommen. Aber Tschaiganow berichtet, dass er seinen zweijährigen Sohn auf jeden Fall auf die russische Schule schicken wird. „Mein Vater hat gesagt, dass er das nicht gut findet. Aber was nützt das?“, sagt er. „Das sind einfach die besseren Schulen.“