Mitte-Links-Kandidat Boric gewinnt Stichwahl um Präsidentenamt klar gegen rechts-konservativen Kast.
Die Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile stand am 19. Dezember ganz im Zeichen der Polarisierung. Nach dem ersten Wahlgang Mitte November kam es zum Duell zwischen Gabriel Boric von der linken Koalition Apruebo Dignidad und dem ultra-konservativen José Antonio Kast von der rechtsextremen Republikanischen Partei. Obwohl im Vorfeld ein knappes Rennen erwartet wurde, war das Ergebnis letztendlich eindeutig. Boric gewann mit 56 Prozent der Stimmen; Kast erreichte 44 Prozent.
Die Stichwahl war nicht nur Ausdruck einer gespalteten Gesellschaft, sondern auch einer Vertrauenskrise des politischen Systems. Boric und Kast gehören zwei Parteien an, die bisher noch an keiner Regierung beteiligt waren. Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur vor 31 Jahren wurde Chile ausschließlich von Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Koalitionen regiert. Die politisch aufgeheizte Stimmung im Land schlug sich auch in der Wahlbeteiligung nieder. Diese war mit 56 Prozent deutlich höher als noch vor einem Monat.
Gespaltenes Land. „Der gewählte Präsident Gabriel Boric hat eine progressive soziale Agenda, die in Chile wichtig ist. Denn entgegen der internationalen Wahrnehmung, dass Chile ein wohlhabendes Land sei, ist es vielmehr ein gesellschaftlich zutiefst gespaltenes Land mit einer sehr reichen Oberschicht, einer immer kleiner werdenden Mittelschicht und wachsender Armut. Ein Prozent der Bevölkerung verfügt über etwa ein Drittel des Vermögens, was Chile zu einem der ungleichsten Länder der Welt macht,“ sagt Ulrich Brand, Professor für Internationale Politik am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien.
Mit 36 Jahren wird der ehemalige Studierendenaktivist Boric kommenden März als jüngster Präsident Chiles vereidigt werden. Seinem Wahlbündnis gehörten neben dem linken Parteienbündnis Frente Amplio und der Kommunistischen Partei auch feministische und ökologische Gruppierungen an. Im Wahlkampf hatte sich Boric für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Feminismus stark gemacht. Er trat für ein „menschlicheres Chile“ ein und sah sich als Sprachrohr sozialer Bewegungen. In seiner ersten Rede als neugewählter Präsident sprach Boric „vom Sieg der Hoffnung über die Angst“. Chile, so meinte er, stehe nun „an einem historischen Wendepunkt“, den es nicht verpassen dürfe.
„Kast hatte im Wahlkampf vor allem Ängste geschürt. Er ist ein Anhänger von Ex-Diktator Pinochet und sieht sich als Garant von Sicherheit und Ordnung. Bei seinen Auftritten hetzte Kast mit rechtspopulistischen Parolen gegen Einwanderer, ‚Kriminelle‘, und ‚Fanatiker der Gender-Ideologie‘ “, sagt Aaron Tauss, Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens in Medellín. Zudem lehne er die gleichgeschlechtliche Ehe und Abtreibungen strikt ab. Bei der Stimmabgabe am Sonntag schlug Kast jedoch gemäßigtere Töne an und versicherte unabhängig vom Wahlergebnis „weiter für Chile arbeiten zu wollen.“ In der Wahlnacht gratulierte er Boric schließlich via Twitter zu seinem „großen Triumph“ und versicherte ihm „vollen Respekt und konstruktive Zusammenarbeit.“
Wachsende Umweltprobleme. Die Sichtwahl um das Präsidentenamt galt in Chile als die wichtigste Abstimmung seit dem Ende der Pinochet-Diktatur. Linke Kräfte und soziale Bewegungen sahen darin eine Chance, das Land gerechter zu machen und nachhaltig zu verändern. Gleichzeitig sollte angesichts der Polarisierung das Wiedererstarken der extremen Rechten unter einer Präsidentschaft Kast verhindert werden.
„Trotz hohem Wirtschaftswachstum und bedeutender Rohstoffvorkommen (vor allem Kupfer, Gold, Silber, Lithium und Nitrate) sind Einkommen und Reichtum in Chile ungleich verteilt“ sagt Aaron Tauss. „Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung kämpft tagtäglich mit teuren Mieten und hohen Lebenserhaltungskosten, während Löhne und Renten niedrig sind. Auch Chiles Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung sind unzureichend und sozial ungerecht und zwingen viele Menschen in Armut und Verschuldung“, sagt Aaron Tauss. „Dazu kommen große Umweltprobleme wie Wasserknappheit. Gerade für europäische und auch österreichische Firmen wird es künftig wichtig werden, auf soziale Standards und Umweltstandards zu achten,“ so Ulrich Brand.
Vor zwei Jahren demonstrierten Hunderttausende monatelang gegen soziale Ungleichheit und Chiles neoliberales Wirtschaftsmodell und für eine neue Verfassung. Die konservative Regierung des scheidenden Präsidenten Sebastián Piñera reagierte mit Gewalt und Repression. Insgesamt kamen bei den Massenprotesten 34 Menschen um Leben; mehr als 3.800 wurden verletzt und über 11.000 festgenommen. Eine neue Verfassung, so die Hoffnung vieler, wurde nicht nur Pinochets neoliberales Erbe überwinden. Sie könnte auch die soziale Kluft im Land verkleinern und wichtige Reformen auf den Weg bringen.
„Der Wahlsieg von Boric zeigt, dass sich die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung nach grundlegenden politischen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen sehnt. Dies wurde schon in den Protesten der vergangen Jahre mehr als deutlich. Konkret ging es dabei es um die Stärkung sozialer Rechte, ökologischer Nachhaltigkeit, einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums und den Ausbau des Sozialstaates“, so Aaron Tauss.
Steuern für Superreiche. Politikwissenschaftler Brand: „Boric will den öffentlichen Sektor stärken, das Gesundheitssystem ausbauen, das private Rentensystem zurückdrängen und Steuern für Superreiche deutlich erhöhen. Gerade das privat organisierte Bildungssystem nimmt vielen Menschen Lebenschancen. Schul- und Studiengebühren kosten oft 400 US-Dollar im Monat; das aber ist das Monatseinkommen vieler Familien. Damit wird Bildung zur Klassenfrage und hängt vom Geldbörsl der Eltern ab.“ Aaron Tauss warnt aber: „Das Wahlergebnis verdeutlicht jedoch auch, dass ein großer Teil der Bevölkerung bereit ist, einem Pinochet-Anhänger, der rechtsextreme, nationalistische und rassistische Ideen verbreitet, ihre Stimme zu geben. Chiles Rechte rund um Kast wird in den kommenden Monaten versuchen, Pincohets Vermächtnis zu bewahren und eine neue Verfassung und somit ein gerechteres und sozialeres Chile zu verhindern“.
Im Juli 2021 hat eine demokratisch gewählte und geschlechterparitätisch besetzte verfassunggebende Versammlung mit der konkreten Ausarbeitung einer neuen Verfassung begonnen. Noch vor September 2022 soll die chilenische Bevölkerung in einem Referendum daruber abstimmen. Im Gegensatz zu seinem Kontrahenten hat Boric die Forderung nach der neuen Verfassung von Anfang an unterstützt. Es ist von daher anzunehmen, dass er nun auch als Präsident das Ringen um ein progressives, post-neoliberales und feministisches Grundgesetz positiv beeinflussen wird.
Pressemitteilung von Diskurs. Das Wissenschaftsnetz
Diskurs. Das Wissenschaftsnetz ist eine Initiative zum Transfer von wissenschaftlicher Evidenz engagierter Wissenschafter*innen in die Öffentlichkeit. Wir setzen uns dafur ein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse entsprechend ihrer Bedeutung im öffentlichen Diskurs und in politischen Entscheidungen zum Tragen kommen.
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