Wie Staatenlosigkeit entsteht

Von Eva Rottensteiner · · 2022/Jan-Feb
Ausweise, Urkunden, Mitgliedskarten dokumentieren die einstige Zugehörigkeit zur myanmarischen Gesellschaft einer 1982 ausgebürgerten Rohingya-Familie. © Greg Constantine

Millionen Menschen weltweit leben ohne Staatsbürgerschaft und haben kaum Zugang zu ihren Rechten. Staatenlosigkeit ist ein globales Problem, auf der politischen Agenda vieler Staaten findet sie sich trotzdem nicht.

Eigentlich ist es nur ein Fetzen Papier, der darüber entscheidet, ob man heiraten, Land kaufen oder sich an einer Uni inskribieren darf. Dieser Fetzen Papier, unser Staatsbürgerschaftsnachweis, ist vielerorts der Schlüssel zu individuellen Rechten. Er ordnet uns einem Territorium zu, dessen Grenzen vor vielen Jahren von irgendwelchen Herrschaften abgesteckt wurden. Doch der Besitz dieses Papierstücks ist für manche unerreichbarer Luxus.

Laut neueren Schätzungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR sind 4,2 Millionen Menschen weltweit staatenlos. Das bedeutet, dass sie keinem Land zugehörige Bürger*innen sind. Und das sind nur die Schätzungen auf Basis der Zahlen, die zur Verfügung stehen. 82 Staaten haben zwischen 2009 und 2018 ihre Daten an UNHCR weitergegeben, andere Länder führen nicht einmal Aufzeichnungen. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein.

In der Grauzone. Staatenlose haben keinen Zugang zu vielen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rechten: Wählen, arbeiten, reisen oder Gesundheitsdienste in Anspruch nehmen – fast überall sind diese grundlegenden Dinge an eine Staatsbürgerschaft geknüpft. Man kann keine Pension oder Sozialhilfe beantragen und in vielen Ländern auch nicht politisch partizipieren. Und wer nicht mitreden darf, kann auch seine Bedürfnisse und Forderungen nicht zum Ausdruck bringen.

„Diese Menschen existieren nicht, sie haben keine Rechte“, erklärte der damalige UNHCR-Chef António Guterres 2014, heute UN-Generalsekretär. Diese Unsichtbarkeit macht Staatenlose auch besonders vulnerabel, ihnen fehlen der Schutz und die Möglichkeiten, diesen überhaupt einzufordern.

Auf dieses Absurdum hat Hannah Arendt schon in den 1950er Jahren hingewiesen. Menschen ohne Staatsbürgerschaft bezeichnete sie als „Weltlose“, als solche, die das Recht verloren haben, ihre Rechte einfordern zu können. Sie war selbst staatenlos und wurde wie unzählige weitere jüdische Menschen in den 1930er Jahren systematisch von den Nazis ausgebürgert. Arendt hat für internationale Institutionen plädiert, die Menschenrechte unabhängig von Staatsgrenzen durchsetzen.

Politisch diskriminiert. Staatenlos wird man zum Beispiel durch den Entzug der Staatsangehörigkeit, oder man wird schon staatenlos geboren. Menschen aus politischen Gründen die Zugehörigkeit zu einem Staat abzusprechen, ist auch heute noch Praxis und betrifft häufig Minderheiten, die aufgrund ihrer Ethnie diskriminiert sind. Das stellt eine der vielen Facetten von Staatenlosigkeit dar. Diese sieht nämlich je nach Land und Rechtssystem anders aus.

In der Dominikanischen Republik sorgte 2010 eine Verfassungsänderung dafür, dass 250.000 Menschen auf einen Schlag staatenlos wurden. Nur wer dominikanische Eltern hat, sollte die Nationalität behalten dürfen. Gerade viele Zuwanderer*innen aus dem ärmeren Nachbarstaat Haiti, die teils als Erntehelfer*innen angesiedelt wurden oder aus wirtschaftlichen Gründen aus Haiti geflohen waren, mussten bereits erhaltene Pässe wieder abgeben. Obwohl die Regelung für bereits registrierte Personen nach Protesten inzwischen zurückgenommen wurde, stecken noch immer Unzählige im Rechtsprozess und warten auf ihren Pass.

In diesem Fall führte eine diskriminierende Politik zu einer rechtlichen Lücke, die eine Gruppe von Menschen in die Staatenlosigkeit gedrängt hat.

Auch der Zerfall von Staaten wie im Südsudan oder der Verlust von Papieren im Zuge einer Flucht können staatenlos machen. Im zweiteren Fall ist man zwar eigentlich nicht staatenlos, kann aber seine staatliche Zugehörigkeit nicht belegen. Der eigene Status ist ungeklärt.

Waffe gegen die Rohingya   

Entrechtet und systematisch ausgegrenzt: Seit Jahrzehnten wird die muslimische Minderheit der Rohingya in ihrer buddhistisch geprägten Heimat Myanmar verfolgt. Den meisten von ihnen wurde durch ein 1982 erlassenes Gesetz die Staatsbürgerschaft entzogen.   

Rassistisch motivierte, militärische Gewalt führte wiederholt zu Massenvertreibungen. 2017 begann eine der brutalsten Kampagnen gegen sie: Mehr als eine Million Menschen flohen über die Grenze nach Bangladesch und leben seither unter prekären Bedingungen im weltweit größten Flüchtlingslager: in Kutupalong im Distrikt Cox’s Bazar.   

Die etwa 600.000 Rohingya, die im westlichen Bundesstaat Rakhine blieben, sind nach Angaben von Human Rights Watch in Internierungslagern oder Dörfern eingesperrt. Die Vereinten Nationen sprechen von Völkermord an den Rohingya, an dem die damalige zivile Regierung unter Führung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi mitschuldig sei.   

Der Fall wird seit 2019 vor dem Internationalen Gerichtshof und vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verhandelt.  Seit dem Militärputsch in Myanmar im Februar 2021 schwinden die Chancen auf eine Rückkehr für die Rohingya weiter. Der Anführer der Putschist*innen, Min Aung Hlaing, wird Amnesty International zufolge direkt mit den Verbrechen an den Rohingya in Verbindung gebracht.    chrit

Unüberwindbare Hürden. Wer keine Papiere hat, kann auch keine vererben. Kinder von Personen mit ungeklärtem Status werden in die Staatenlosigkeit hineingeboren.

Und es gibt eine geschlechtsspezifische Barriere in der Vererbung: Im Libanon etwa ist es Frauen nicht erlaubt, ihre Staatsbürgerschaft weiterzugeben. Nur der Vater darf sie vererben oder als Vormund die Rechte der Kinder einklagen. Stirbt der Vater, rückt ein anderer Mann in der Familie als Vormund nach.

Die auf 60.000 geschätzten Staatenlosen im Libanon (genaue Zahlen gibt es nicht) sind zu einem großen Teil muslimisch. Beobachter*innen vermuten dahinter eine rassistische Politik. Und wie es scheint, hat der libanesische Staat auch kein Interesse, das zu ändern.

Gleich mehrere ungünstige Faktoren fallen in der Elfenbeinküste zusammen: Nur ivorische Eltern können ihren Kindern die Staatsbürgerschaft vererben. Weil aber während der Kolonialzeit Migrant*innen aus Westafrika angesiedelt wurden, um auf den Plantagen zu arbeiten, stellt diese Politik für viele ein Problem dar.

Hinzu kommt: Eingebürgerte Frauen dürfen die ivorische Nationalität nicht automatisch weitergeben. Viele Menschen können ihre Staatszugehörigkeit aber gar nicht nachweisen, weil sie durch Menschenhandel, Krieg oder Flucht ihre Papiere verloren haben. Zusätzlich verlangen korrupte Beamte hohe Summen für ivorische Ausweispapiere, weshalb immer weniger Menschen Geburten registrieren lassen. Laut Regierung in Abidjan sind von den geschätzten 700.000 staatenlosen Menschen in der Elfenbeinküste die Hälfte Kinder.

© SWM / Atlas der Staatenlosen / Bartz/Stockmar (M), CC BY 4 / UNHCR

Staatenlose gibt es überall auf der Welt – auch in Europa ist mindestens eine halbe Million Menschen betroffen. Die Ursachen sind jenen in anderen Teilen der Welt ähnlich: Zu einem starken Anstieg der Staatenlosigkeit in den baltischen und osteuropäischen Staaten kam es etwa durch die Auflösung der Sowjetunion.

Und auch der Zerfall Jugoslawiens erschwerte es für viele Menschen, eine Staatsbürgerschaft zu erlangen, viele Roma haben bis heute mit bürokratischen Hürden aufgrund fehlender Ausweispapiere zu kämpfen.

Und in Österreich? Laut der Erhebung des Staatenlosigkeits-Index 2021, veröffentlicht vom European Network on Statelessness (ENS), lebten im Jahr 2020 insgesamt 17.025 Menschen in Österreich, die den Kategorien „staatenlos“ (4.255), „Staatsangehörigkeit unbekannt“ (745) oder „Staatsangehörigkeit ungeklärt“ (12.025) zugeordnet wurden. Zwei Drittel der Betroffenen sind hier geboren, so die Zahlen der Statistik Austria.

„In keinem anderen europäischen Land ist es für Migrant*innen schwerer, die Staatsbürgerschaft zu erwerben“, sagt der Wiener Politikwissenschaftler Gerd Valchars gegenüber der Organisation SOS Mitmensch. Die NGO hat die Petition #hiergeboren ins Leben gerufen. Eine der Forderungen: Kinder, die in Österreich geboren sind, automatisch einzubürgern, wenn zumindest ein Elternteil schon sechs Jahre hier lebt.

Denn: Die großen Hürden des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts treffen staatenlose Menschen besonders.

Eine Collage, die den Verlust und das anhaltende Trauma der aus Myanmar vertriebenen Rohingya darstellt. © Greg Constantine

Keine Daten, kein Problem? Aber: Warum hat das Thema Staatenlosigkeit abseits der UN-Gremien kaum politische Öffentlichkeit? Und wenn es eine Debatte gibt, warum sind Staatenlose selbst häufig kein Teil davon? Allzu oft fehlt es nach wie vor an Bewusstsein für und Information über das Thema. Und: Die dürftige Datenlage macht es Regierungen leicht, über das Problem hinwegzusehen. Und gibt es offiziell kein Problem, muss man auch keine Beratungsstellen für staatenlose Menschen organisieren oder sich um einheitliche Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit kümmern.

Während die internationale Gemeinschaft im Zuge der Genfer Flüchtlingskonvention ein einheitliches Verfahren im Umgang mit geflüchteten Menschen geschaffen hat, fehlt Derartiges noch für staatenlose Menschen. Es gibt zwar mittlerweile zwei UN-Konventionen, die Staatenlosigkeit definieren und als rechtlicher Leitfaden fungieren können, um Staatenlosigkeit zu beseitigen. Es scheitert allerdings in vielen Ländern noch an der Umsetzung.

Dazu kommt, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation vielerorts einer ethnischen Logik folgt und als exklusives Gut gehandhabt wird. Für ein demokratisches System ist das verheerend. Wenn Staatsbürgerschaft durch Vererbung und nicht auf Basis des eigenen Aufenthaltsortes zugänglich gemacht wird, dürfen ganze Menschengruppen dort, wo sie leben weder ihre Bedürfnisse äußern, noch aktiv mitgestalten. Ähnlich sieht das die Innsbrucker Migrationsforscherin Julia Mourão Permoser: „Es ist im Interesse eines demokratischen Staates, dass alle, die dort auch künftig über Generationen wohnhaft bleiben wollen, ein Recht auf Mitbestimmung haben“, sagt sie. Auch aus einer sicherheitspolitischen Perspektive ist es nicht sinnvoll, wenn Menschen in einem staatlichen Gefüge unter der Oberfläche verschwinden.

Wege aus der Staatenlosigkeit. Und so vielschichtig die Ursachen sind, so vielschichtig müssen auch die Lösungen gedacht werden. Mit der Kampagne #IBelong („Ich gehöre dazu“) schreibt sich UNHCR seit 2014 das Thema Staatenlosigkeit auf die Fahnen und versucht, aktiv gegen das Problem anzukämpfen.

Ziel ist es, Staatenlosigkeit zu identifizieren, betroffene Personen zu schützen, sie aus der Staatenlosigkeit zu holen und zu verhindern, dass weitere Personen in die Staatenlosigkeit rutschen. Es wurden bereits Erfolge erzielt. Seit Beginn der Kampagne haben immerhin 800.000 staatenlose Personen eine Staatsbürgerschaft erhalten, 14 Staaten die gesetzlichen Hürden für staatenlose Kinder reduziert, 17 Staaten haben ein einheitliches Verfahren eingeführt und teils auch die Barrieren für den Staatsbürgerschaftserwerb reduziert. Zwölf Weitere erleichtern es jetzt zumindest staatenlosen Migrant*innen, eingebürgert zu werden, und zwei Staaten haben
geschlechtsspezifische Barrieren abgebaut.

Dass es gelingen kann, hat Kirgistan vorgemacht: Im zentralasiatischen Land konnten alle Fälle von Staatenlosigkeit gelöst werden.

Regierungen säumig. Immerhin: die Debatte bekommt heute international mehr Aufmerksamkeit als vor ein paar Jahren. Doch es liegt vor allem an den Nationalstaaten, konkrete Antworten für die Staatenlosigkeit innerhalb ihrer Grenzen zu finden.

„In den vergangenen Jahren wurden erhebliche Fortschritte erzielt, aber die Regierungen müssen mehr tun, um die rechtlichen und politischen Lücken zu schließen, die weiterhin Millionen von Menschen staatenlos machen oder es zulassen, dass Kinder in die Staatenlosigkeit hineingeboren werden“, sagte der UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi Anfang November 2021 anlässlich des siebten Jahrestags der Kampagne.

Staatenlosigkeit erfordert Lösungswege auf verschiedenen Ebenen. Der Handlungsbedarf wird in Zukunft dabei noch größer, denn der Anteil der Ausgeschlossenen wächst. Durch Klimakrise, Pandemie, Flucht und Migration kommen weltweit aktuelle Herausforderungen im Kampf gegen die Staatenlosigkeit auf uns zu. Höchste Zeit, darüber zu sprechen.

Eva Rottensteiner studiert Gender Studies, Politikwissenschaft und Journalismus. Sie lebt als freie Journalistin in Wien.

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