Die langjährige Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofes fordert die Durchsetzung des Völkerrechts und Reformen der UN. Auszug aus dem Buch „Ich bin keine Heldin“.
Ende 2019 lag die Zahl der Menschen, die sich weltweit auf der Flucht befanden, bei 79,5 Millionen – das ist mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung und doppelt so viel wie noch im Jahr 2010. Mehr als zwei Drittel der geflohenen Menschen stammen aus fünf Ländern: Syrien, gefolgt von Venezuela, Afghanistan, Südsudan und Myanmar. Die Gründe sind vielfältig: Armut, Perspektivlosigkeit, die Folgen des Klimawandels – viele Aspekte spielen eine Rolle. Die Hauptursache ist jedoch: Gewalt.
Die Verbrecher, die für dieses millionenfache Leid verantwortlich sind, kommen trotz Völkerrecht und Internationalem Strafgerichtshof ungesühnt davon. Sie werden nicht zur Verantwortung gezogen. Unsere Hoffnung, dass die Zivilbevölkerung nach den ersten internationalen Tribunalen besser geschützt sei, hat sich offensichtlich nicht erfüllt.
Wir glaubten, dass die Präsidenten, Minister und Generäle dieser Welt nach diesen Urteilen auch bei bewaffneten Konflikten darauf achten, die Zivilbevölkerung zu schützen und sich an das Kriegsrecht zu halten. Die abschreckende Wirkung der Tribunale hat aber nie eingesetzt, und die Drahtzieher der Gewaltexzesse setzen nach wie vor auf Straflosigkeit. Denn obwohl es seit 2002 den Internationalen Strafgerichtshof gibt, ist internationales Recht nach wie vor abhängig vom politischen Willen einzelner Staaten. Und dieser Wille fehlt.
Faktor USA. Wurde die internationale Gerichtsbarkeit anfangs noch maßgeblich von den USA initiiert und finanziert, ließ deren Begeisterung im Verlauf der Jahrzehnte nach. Insbesondere unter Donald Trump wandte sich ihre Politik sogar gegen den Internationalen Strafgerichtshof und die Werte, die er vertritt. Zu groß ist die Angst, dass US-amerikanische Staatsbürger*innen vor einer internationalen Institution zur Verantwortung gezogen werden könnten. Konkreter Anlass für die neuerliche Feindseligkeit der USA gegenüber dem Gerichtshof dürften dessen Vorermittlungen im Jahr 2018 sein. Untersuchungsgegenstand waren Foltervorwürfe gegen US-amerikanische Soldaten, die Gefängnisse in Afghanistan bewachten. Dabei ging es auch um eine mögliche Verantwortlichkeit der Dienstvorgesetzen sowie der CIA.
Gänzlich neu ist diese – milde ausgedrückt – Skepsis der USA nicht: Bereits die Regierung des ehemaligen Präsidenten George W. Bush hatte gegen die internationale Strafjustiz gehetzt. Zudem gehören die USA, ebenso wie Russland und China, zu den Staaten, die das für den Internationalen Strafgerichtshof grundlegende Rom-Statut nicht ratifiziert haben.
Diese drei Länder, die zu den größten und mächtigsten der Erde zählen, bleiben folglich bei der internationalen Gerichtsbarkeit außen vor. Dazu kommt: Als ständige Mitglieder im UN-Sicherheitsrat können sie mit ihrem Veto verhindern, dass dieser den Gerichtshof bei Kriegsverbrechen in Ländern beauftragt, die das Rom-Statut nicht ratifiziert haben – so geschehen durch die Vetos Chinas und Russlands für Syrien.
Alle Staaten, gegen deren Verantwortliche die internationale Strafgerichtsbarkeit bisher ermittelt hat, stellten ihre Legitimität infrage und bezeichneten sie als politisches Vehikel, mit deren Hilfe man ihre Nationen an den Pranger stellen wollte – aus ihrer Sicht zu Unrecht. Und ganz klar ist: Alle Staaten auf der Welt verfolgen ihre partikularen Interessen. Die Durchsetzung des internationalen Rechts ist für die meisten so lange in Ordnung, wie sie ihre nationalen Interessen nicht berührt. Das gilt auch für die USA, obwohl sie die internationale Justiz mitbegründet hatten.
Der mangelnde politische Wille der einzelnen Staaten ist es, der die internationale Gerichtsbarkeit schwächt. Denn das internationale Recht liegt in einer Grauzone zwischen Recht und Politik, zwischen nationaler Souveränität und internationaler Verantwortung. Und diese Grauzone ist im Verlauf der Jahrzehnte größer geworden. Mittlerweile müssen wir sogar froh sein, wenn wir den Status quo halten können. In den letzten Jahren haben sich mehrere Staaten aus dem Internationalen Strafgerichtshof zurückgezogen. Wer weiß, wie lange wir ihn überhaupt noch haben werden?
Entscheidender Moment. Es ist momentan schlecht um die Menschenrechte und die internationale Gerichtsbarkeit bestellt. Wir müssen uns fragen, welche Bedeutung sie für uns haben und welche Rolle sie in Zukunft spielen sollen. Wenn wir wollen, dass die Welt eine bessere wird, müssen wir die internationale Gemeinschaft aufwecken und dem Schutz der unveräußerlichen Rechte, die alle Menschen auf diesem Planeten genießen sollten, wieder die gebührende Bedeutung zukommen lassen. Und ohne die internationale Gerichtsbarkeit ist das nicht möglich. Nur sie schafft Gerechtigkeit für die Hundertausenden Opfer und ihre Hinterbliebenen.
Der Beitrag ist ein Auszug aus:
Carla Del Ponte
Ich bin keine Heldin
Mein langer Kampf für Gerechtigkeit
Westend Verlag, Frankfurt/Main 2021, 176 Seiten, € 18,50
Bei meinen Gesprächen mit Betroffenen, zum Beispiel mit syrischen Flüchtlingen in den Lagern im Libanon und in Jordanien, habe ich gespürt, wie wichtig es für diese Menschen ist, Gerechtigkeit zu erfahren, und wie sehr sie danach verlangen.
Nur über institutionalisierte Gerechtigkeit ist ein friedliches Zusammenleben möglich – sie unterbricht den furchtbaren Kreis der Blutrache, der es immer neuen Generationen von Drahtziehern ermöglicht, die Menschen für Gräueltaten zu mobilisieren. Sie ist der erste Schritt, wenn nicht zu einer Aussöhnung, dann zumindest zu einer Neuorganisation des Zusammenlebens nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung.
Die internationalen Gerichte sind Orte, an denen die Wahrheit ans Licht kommt. Und die Zivilbevölkerung muss diese Tatsachen akzeptieren. Andernfalls kommt es zu einer doppelten Geschichtsschreibung und zu Revanchismus, einer Politik, die darauf ausgerichtet ist, mit militärischen Mitteln „verlorene“ Gebiete zurückzuerlangen oder als aufgezwungen empfundene Verträge zu annullieren. Dadurch ist der Internationale Strafgerichtshof die entscheidende Institution für die Verwirklichung der Hauptziele der UNO: Frieden und Stabilität für alle Menschen auf der Welt.
Die Rolle der UNO. Damit die Vereinten Nationen diese existenziellen Aufgaben wahrnehmen können, ist es wichtig, sie so unabhängig wie möglich vom politischen Willen einzelner Länder zu machen. Das wird ohne eine Reform der UNO und ihrer Institutionen, wie des Sicherheitsrates, nicht möglich sein.
Auch darum mein neues Buch: um zu zeigen, dass internationales Recht unumgänglich ist und unabhängig sein muss, wenn wir friedlich miteinander leben wollen. Weg mit den Grauzonen!
Damit wir den Machthabern rote Linien nicht lediglich aufzeigen, sondern auch auf einer rechtlichen Basis dafür sorgen können, dass sie diese nicht übertreten. Mein Kampf für Gerechtigkeit ist also nicht vorbei, sondern beginnt jeden Tag von Neuem.
Carla Del Ponte, geboren 1947 in der Schweiz, ist eine Juristin und Diplomatin. In den 1980er Jahren entging sie einem Attentat der Mafia. Von 1999 bis 2007 war sie Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und für den Völkermord in Ruanda. In weiterer Folge war sie Botschafterin der Schweiz in Argentinien und Mitglied einer UN-Untersuchungskommission zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien.
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