Südwind: Die Ernährungskrise, über die nun alle reden, hat wohl verschiedene Wurzeln. Welche Ursachen und auch politischen Versäumnisse sind für Sie die ausschlaggebendsten?
Franz Fischler: Es handelt sich dabei um eine aktuelle Krise und eine möglicherweise viel größere und längere Krise, die erst kommen könnte. Was die aktuelle Krise betrifft, so ist die Hauptursache eine Anhäufung von verschiedenen Elementen. Erstens eine schlechte Ernte in einigen Teilen der Welt, insbesondere in Australien und in der Schwarzmeer-Region, da hat es drei Mal hintereinander eine Missernte bei Getreide gegeben. Zweitens die exorbitant steigende Nachfrage nach Fleisch, vor allem in den Schwellenländern, allen voran China, wo die Nachfrage nach Geflügel und nach Schweinefleisch drastisch wächst. Das ist ja nichts anderes als umgewandeltes Getreide.
Diese beiden Faktoren zusammen haben dazu geführt, dass wir zur Zeit die niedrigsten Lagerbestände in den letzten 30 Jahren haben, wobei man nicht ganz genau weiß, wie viel tatsächlich auf Lager liegt, weil auch versucht wird, Ware zurückzuhalten, um zu spekulieren. Und dies ist der dritte Faktor, denn natürlich spielt auch die Spekulation eine Rolle, und in Verbindung mit der Spekulation auch der Ölpreis. Die moderne Landwirtschaft ist ja doch, sowohl was die Düngemittelproduktion als auch was die ganze Mechanisierung betrifft, sehr eng gekoppelt an den Verbrauch von Treibstoffen. Das sind die Hauptelemente der aktuellen Krise, wobei hier der Bio-Treibstoff nur eine untergeordnete und wenn schon, dann regionale Rolle spielt. In der ganzen Welt werden für diese Treibstoffe etwa nur zwei bis drei Prozent der Getreideproduktion verwendet. Das ist also nicht der entscheidende Faktor. Das kann sich aber in Zukunft ändern, wenn die Industriestaaten größere Teile ihrer Ernte zu Sprit machen.
Und wie werden sich die Preise bei den Agrargütern entwickeln?
Wenn man die Sache längerfristig betrachtet, kann man davon ausgehen, dass das, was wir zur Zeit erleben, eine Preis-Spitze ist, die wieder hinuntergeht. Bei einigen Produkten sieht man das bereits, so ist z.B. der Weizenpreis an der Börse schon gefallen, noch stärker ist der Milchpreis gefallen, und die anderen Preise werden folgen, vor allem dann, wenn klar wird, dass die heurige Ernte eine gute Ernte wird. Aber die Preise werden nicht mehr zurückgehen auf das frühere Niveau, sondern es wird tendenziell längerfristig einen Aufwärtstrend geben. Diese Entwicklung wird wesentlich als Motor wirken, dass die Weltlandwirtschaft mehr produziert.
Denken Sie, dass da die Bauern auch einiges abbekommen werden von diesem Mehrwert?
Natürlich wird es da unter den Beteiligten in der Nahrungsmittelkette Auseinandersetzungen geben. Das ist nicht überall gleich. Ich denke, dass in Europa die Bauern sehr wohl was abbekommen werden. In der Ukraine, wo die Märkte weniger gut funktionieren, in den Händen von wenigen großen Händlern liegen, wo auch zum Teil mafiöse Praktiken geübt werden, da ist es sicher schwieriger. Aber ganz schwierig ist es in den Entwicklungsländern, weil z.B. in Thailand oder in Indonesien oder in irgendeinem der südostasiatischen Staaten es in der Regel so ist, dass der Reisanbau ein reiner Kontraktanbau ist und die Steigerung des Reispreises zum allergrößten Teil in die Taschen der Händler und Aufkäufer fließt.
Es genügt nicht, jetzt auf höhere Preise in der Zukunft zu setzen, sondern es müssen auch Strukturen verändert werden. Und bei der Strukturänderung kommt es einerseits darauf an, dass es gelingt, im Prinzip etwas Ähnliches zu tun, was wir zu Beginn der Industrialisierung in Europa getan haben. Damals haben die Bauern angefangen, sich zusammenzuschließen in Vereinigungen und Genossenschaften, weil sie ausgebeutet wurden. Und durch den gemeinsamen Verkauf haben sie bessere Preise und eine bessere Marktposition erreicht. Genau dasselbe braucht man in diesen Ländern auch.
Dann kommt aber noch ein anderer Faktor hinzu, und das sind die politischen Systeme. Es mag zwar richtig sein, dass Europa, aber nicht nur Europa, eine gewisse Schuld daran hat, dass sich in den letzten 30 Jahren in den meisten Teilen Afrikas – wenn man jetzt von den Maghrebländern und von Südafrika absieht – die Landwirtschaft nur schwach entwickelt hat. Aber die Hauptschuld ist sicherlich, dass in vielen dieser Staaten völlig desolate politische Systeme existieren und es unter solchen Rahmenbedingungen äußerst schwierig ist, eine Landwirtschaft aufzubauen. Doch ohne dass man die afrikanische Landwirtschaft entwickelt, werden wir nie imstande sein, auch nur annähernd den Hunger zu beseitigen.
Was mir in der Diskussion um die Ernährungskrise abgeht, ist diese alte Forderung nach einer durchgreifenden Landreform. Zum Beispiel in Brasilien mit dieser völlig ungleichen, ungerechten Verteilung des Grundbesitzes.
Genau da liegt der politische Punkt. Eine solche Landreform kann man ja nicht von außen verordnen, sondern das ist eine Frage der inneren Staatsordnung. Wenn es in Brasilien immer noch sehr einfach ist für diverse Landlords, sich das Grundeigentum unter den Nagel zu reißen, und es gleichzeitig eine riesige landlose Bevölkerung gibt, die als Landarbeiter in völliger Abhängigkeit von den Landherrn arbeiten müssen, so ist das eine Sache, die kann nur geändert werden, wenn es in Brasilien selbst eine Bereitschaft gibt, etwas zu ändern. Noch viel krasser ist es in vielen afrikanischen Staaten. Das ist ein sehr großes Dilemma, das man kurzfristig nicht lösen kann, sondern das Teil eines längerfristigen Programms sein muss, wo die internationalen Geldgeber die Bedingungen, unter denen sie solchen Staaten Geld geben, anders formulieren müssen. Das ist das einzige mögliche Druckmittel, das ich da sehe.
Welche Perspektiven sehen Sie mittelfristig? Stehen wir wirklich an der Schwelle eines „neuen Zeitalters des Hungers“, wie das World Food Program der UNO warnt?
Das ist vielleicht etwas übertrieben ausgedrückt. Einerseits müssen wir uns klar darüber sein, dass erstens einmal die Weltbevölkerung jährlich um etwa 80 Millionen – das ist immerhin die Gesamtbevölkerung Deutschlands – wächst. Der zweite Faktor, der hier eine große Rolle spielt, sind die Wanderungsbewegungen. Man rechnet damit, dass in den nächsten 25 Jahren ungefähr eine Milliarde Menschen die ländlichen Regionen verlassen und in die Städte wandern. Diese beiden Faktoren zusammen führen dazu, dass der Anteil von Nahrungsmitteln, die über den Handel an die Konsumenten kommen, größer wird. Für alle, die ihr Land verlassen, kommt die Selbstversorgung ja nicht mehr in Frage.
Die andere Seite ist die, dass man auf Grund des Klimawandels damit rechnen muss, dass die Häufigkeit und auch die Intensität von abnormalen Wetterereignissen – wobei hier vor allem die Dürren relevant sind, denn die Überflutungen sind eher lokal – zunehmen und dazu führen wird, dass es größere Angebotsschwankungen gibt und damit auch größere Preissprünge.
Viele Jahre lang gab es weltweit einen großen Getreideüberfluss, und plötzlich herrscht nun eine Knappheit. Was hat sich da geändert?
Es fließt immer mehr Getreide in die Tier-Fütterung. Es ist ja jetzt schon so, dass von der gesamten Getreideernte in Europa zwei Drittel für die Fütterung verwendet werden und nur ein Drittel direkt für die Ernährung. Weltweit ist das Verhältnis ungefähr halbe-halbe. Und dieser Trend wird wohl so weiter gehen, weil z.B. jeder Chinese im Jahr zehn Kilo Fleisch mehr isst. Wenn Sie rechnen, dass man für die Produktion von einem Kilo Geflügelfleisch, das ist noch das Dezenteste von allen, etwa vier Kilo Getreide braucht, so sehen Sie, dass man für so einen Zuwachs über 50 Millionen Tonnen Getreide im Jahr benötigt.
Ich bin der Meinung, und das wird ja auch jetzt immer breiter diskutiert, man muss in der Zielsetzung für die Agrarpolitik in Europa auf der einen Seite die globale Nahrungsmittelsicherheit im Auge haben und als zweites Ziel die Umweltsicherheit. Oder wie man auf Englisch so schön sagt: Food security and Environmental security.
Es braucht ein fundamentales Umdenken. Man kann nicht einfach wieder zur Tagesordnung übergehen, wenn jetzt eine gute Ernte kommt.