Die EU-Grenzschutzagentur Frontex setzt im Mittelmeer auf Flugzeuge zur Überwachung statt auf Rettungsschiffe. Wie eng die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache ist, zeigt folgende Recherche.
Am Beginn der Überfahrt verspürt er keine Angst. Im Gegenteil: Samuel Abrahm ist glücklich. „Libyen ist schlimmer als das Meer“, denkt er. Da weiß er noch nicht, dass nicht alle diese Fahrt im Jahr 2020 überleben werden.
Um Mitternacht legt Abrahm mit 62 weiteren Menschen in einem überfüllten Schlauchboot von der libyschen Küstenstadt Garabulli ab. Auch Kinder sind an Bord, eines erst wenige Tage alt. Kaum jemand trägt eine Rettungsweste. „Wir dachten nicht, dass diese Reise so lange dauern würde”, sagt er ein Jahr später, im April 2021, gegenüber dem Südwind-Magazin. „Deshalb, und um Platz zu sparen, hatten wir nur wenig zu essen und zu trinken dabei.“ Bereits am ersten Tag seien die Vorräte knapp gewesen, am zweiten bereits aufgebraucht. Aus Durst und Verzweiflung hätten sie begonnen, Meerwasser zu trinken.
Dann entdeckt Abrahm ein Flugzeug, das über ihrem Boot kreist. Es werde Hilfe holen, geht es dem jungen Mann durch den Kopf. Doch das Flugzeug wird ihn und die anderen nicht retten.
Von oben überwacht. Abrahm, der ursprünglich aus Eritrea kommt, ist einer von über 53.000 Menschen, die laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Jahr versucht haben, über das zentrale Mittelmeer nach Europa zu gelangen.
Knapp ein Drittel von ihnen ist 2020 an der Überfahrt aus Nordafrika in Richtung Europa gescheitert. Und die kleine, viersitzige Propellermaschine, die über den Schiffbrüchigen kreiste, hat damit zu tun.
Ein halbes Jahr haben wir, ein Team von Reporter*innen, Flugdaten und Videos gesammelt. Wir recherchierten vor Ort in Lampedusa und arbeiteten mit Open Source Intelligence (OSINT), also frei verfügbaren, offenen Quellen, ebenso mit internen Dokumenten der EU und von Hilfsorganisationen wie Sea-Watch und Alarmphone, die sich für Seenotrettung von Geflüchteten einsetzen. So konnten wir Fälle wie jenen von Abrahm, der eigentlich anders heißt und dem wir zu seinem Schutz vor Repression in Libyen diesen Namen gegeben haben, rekonstruieren. Zusätzlich haben wir über Kontakte und Social Media versucht, Überlebende ausfindig zu machen, um ihre Geschichten zu dokumentieren.
Abrahms Geschichte ist auch die einer neuen Taktik der EU, der Mitgliedstaaten am zentralen Mittelmeer und von Frontex, der Europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache: Sie wollen Menschen, die versuchen, von der afrikanischen Küste über das Meer nach Europa zu gelangen, davon abhalten.
Seit 2016 reduzieren Frontex und die EU-Küstenstaaten die Zahl ihrer Schiffe im Mittelmeer. Sie ersetzen die Überwachung auf dem Wasser mit jener aus der Luft.
Seit 2018 kreisen meist drei Propellermaschinen mit dem Namen Osprey 1, Osprey 3 und Eagle 1 über dem Wasser. Sie halten Ausschau nach Menschen in Seenot, um deren Position an die zuständigen Seenotleitstellen weiterzugeben.
Seenot. Es gibt keine einheitliche Definition für den Begriff Seenot. Das führt dazu, dass NGOs und Frontex nach unterschiedlichen Kriterien arbeiten. Für die deutsche Initiative Sea-Watch ist jedes Schlauchboot, das versucht, die Distanz von Libyen nach Italien zu überwinden, in Seenot. Für die europäische Grenzschutzagentur Frontex ist Seenot nur dann gegeben, wenn zudem keine Schwimmwesten an Bord sind, schlechte Wetterbedingungen herrschen und der Motor nicht funktioniert. Aber in der Praxis wird auch bei diesen Bedingungen nicht immer geholfen.
Unterlassene Hilfeleistung. „Das Benzin war schon lange aus. Es waren die Wellen, die uns in irgendeine Richtung trugen“, erzählt Abrahm. Es ist der 13. April 2020, der dritte Tag für ihn auf hoher See. Wiederholte Male kreiste ein Flugzeug über ihren Köpfen. Mal sei es ganz nah über ihnen geflogen, mal weiter weg, sagt der junge Eritreer. Zudem zeigen offen zugängliche Flugdaten, dass sich ein Frontex-Flugzeug an diesem Tag in der Nähe befunden haben muss.
Eigentlich gilt auf hoher See ein einfaches Gesetz: Jeder Mensch, der in Seenot gerät, muss gerettet werden. Das ist im Seevölkerrecht festgehalten. Zuständig dafür sind Schiffe in dessen unmittelbarer Nähe, also auch Handelsschiffe oder Frachter.
In der Nacht des vierten Tages taucht ein Frachtschiff neben ihrem Boot auf. „Drei Personen sprangen ins Wasser und versuchten, zu dem Schiff zu schwimmen”, erinnert er sich. „Sie wollten bei dem Frachter um Benzin bitten. Doch die Wellen wurde immer höher. Wir haben sie danach nicht mehr gesehen.” Auch hier kreiste laut Open-Source-Flugdaten ein Flieger über ihnen.
Am Morgen des fünften Tages werden die Überlebenden von einem vermeintlichen Fischerboot aufgegriffen und nach Libyen zurückgebracht. Laut Recherchen der New York Times soll es sich dabei um ein Boot gehandelt haben, das von der maltesischen Küstenwache angeheuert wurde, um im Auftrag von Malta die Flüchtenden nach Libyen zurückzubringen.
Zwölf Menschen sterben bei dieser versuchten Überfahrt. Weil sie ins Meer springen, um zu einem Frachter zu schwimmen. Weil sie die Situation nicht mehr aushalten und aus Verzweiflung ins Meer springen. Und weil sie auf dem Fischerboot nicht ausreichend Versorgung erhalten haben.
Illegales Zurückdrängen. „Einen heimlichen Pushback“, wird die Initiative Alarm Phone das wenige Tage später nennen. Ein Zurückdrängen von Menschen aus europäischen Gewässern ohne rechtliche Grundlage. Heimlich deshalb, weil dies nicht direkt von europäischen Behörden ausgeführt worden sei.
Durch den Einsatz von Flugzeugen anstatt Schiffen hat sich Frontex eine legale Grauzone geschaffen. Davon geht die Rechtswissenschaftlerin Violeta Moreno-Lax von der Queen Mary University in London aus: „Der Vorteil von Drohnen und Flugzeugen statt Schiffen ist, dass man am Ende immer noch sagen kann, man habe das Boot nicht gesehen oder nicht auf dem Radar gehabt.” Und somit entziehe man sich der Verantwortung.
Denn: Zeitgleich mit dem schrittweisen Abzug der Rettungsschiffe vertiefen die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Beziehung mit Libyen, einem Bürgerkriegsland ohne einheitliche Regierung und ohne funktionierenden Rechtsstaat. „Es ist ein Land, das die Genfer Menschenrechtskonvention nie unterschrieben hat“, hält die Innsbrucker Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser in einem Blogeintrag in der Zeitung Der Standard fest.
Ein Land, in dem Menschen willkürlich inhaftiert und gefoltert werden, wie Berichte von Menschenrechtsorganisationen belegen. „Beinahe jede Frau in einem libyschen Flüchtlingslager wird Opfer sexueller Gewalt“, schreibt Mourão Permoser.
Vor drei Jahren wurde mit Unterstützung der EU und ihren Mitgliedstaaten eine eigene Seenotrettungszone für Libyen eingerichtet (vgl. Interview dazu). Zuvor hatte Italien im libyschen Gebiet die Überwachungs- und Rettungsverantwortung übernommen.
Sicherer Hafen. NGOs sprechen meist von einem sicheren Hafen, in den Flüchtende, nachdem sie an Bord eines Schiffes genommen wurden, gebracht werden müssen. Artikel 3 der Menschenrechtskonvention verbietet es, Menschen an einen Ort zurückzuführen, an dem ihnen Folter oder Lebensgefahr droht. Laut internationalem Seerecht spricht man von einem sicheren Ort, was nicht zwingend der nächste Hafen sein muss. Es ist ein Ort, an dem keine Menschenrechtsverletzungen drohen sowie Grundbedürfnisse wie Nah-rung, Obdach und medizinische Versorgung gedeckt werden. Klar ist: In Libyen ist das derzeit nicht gegeben.
Einfach wegschauen. Die Geschichte von Abrahm ist bei weitem kein Einzelfall. Es ist nur ein Fall, über den später ein Überlebender berichten kann. So wie jener von Nour Said, der zu seinem Schutz einen anderen Namen trägt und ursprünglich aus Ägypten kommt.
Drei Tage lang irrt er auf hoher See herum – irgendwo im Mittelmeer zwischen Italien und Libyen. Der einzige Anhaltspunkt während seiner Odyssee: das Flugzeug, das immer wieder über ihm kreist.
Bereits 30 Stunden nachdem er in der Nähe der libyschen Küstenstadt Zuwara mit über einem Dutzend weiterer Menschen ein kleines Boot bestieg, gibt es kein Trinkwasser, kein Essen und kein Benzin mehr.
Als der Wind stetig zunimmt und die Wellen immer höher werden, verliert der Kapitän die Orientierung. Er war kein richtiger Seemann, berichtet Said später via Videoanruf.
Am dritten Tag kehrt das Boot um. Ein tunesischer Fischer hat die Passagier*innen vor einem Sandsturm gewarnt. Das Boot strandet in Tunesien.
Nur mit viel Glück hat Said die gescheiterte Überfahrt nach Europa überlebt. Für das Boot, in dem er saß, fühlte sich anscheinend niemand zuständig. Das Flugzeug, das ihm Hoffnung schenkte, hat ihn nicht gerettet, nur überflogen. Wie bei jener Fahrt, die im Frühling 2021 stattfand.
NGOs ziehen nach. Am 21. April geht ein Notruf bei der Initiative Alarm Phone ein: Etwa 130 Menschen sind in Seenot geraten. Sie treiben in einem Schlauchboot auf dem Mittelmeer, zwischen Libyen und Europa.
Alarm Phone verständigt die zuständigen Behörden und das Schiff Ocean Viking der Seenotrettungsorganisation SOS Méditerranée. Es wird Nacht, Wind kommt auf, die Wellen türmen sich bis zu sechs Meter hoch, so beschreibt es später SOS Méditerranée.
Über dem Boot kreist ein Flugzeug. Laut dem Logbuch der Seenotrettungsorganisation steht es im Kontakt mit der libyschen Küstenwache. Am nächsten Tag kreist ein weiteres Frontex-Überwachungsflugzeug nur noch über dem kaputten Schlauchboot. Es treibt in einem Meer aus Leichen, so beschreibt es später ein Crew-Mitglied der Ocean Viking in einem Blogbeitrag.
Die Frontex-Flugzeuge sind jedoch nicht die einzigen, die über dem zentralen Mittelmeer kreisen. Weil Schiffe der zivilen Seenotrettung immer wieder in europäischen Häfen festgesetzt werden, versuchen Seenotrettungsorganisationen, flüchtenden Menschen in Seenot aus der Luft zu helfen.
Langstreckendrohnen. Im Oktober 2020 vergab die europäische Grenzschutzagentur Frontex einen Auftrag an das israelische Unternehmen Israel Aerospace Industries, das gemeinsam mit dem europäischen Flugzeughersteller Airbus eine militärische Langstreckendrohne für die Überwachung der EU-Außengrenze liefern wird. Bisher wurde diese Drohne vor allem in Kriegsgebieten eingesetzt: im Gazastreifen, in Afghanistan oder in Mali. Seit Mai 2021 fliegt sie testweise von Malta aus über das Mittelmeer.
Solidarische Pilot*innen. Ein kühler Tag Mitte Dezember 2020. Pascal Stadelmann starrt links aus dem Fenster der kleinen Propellermaschine Moonbird. Zwei Stunden verharrt er bereits in dieser Position, um mit seinen Augen die Wellen zu scannen. „Da, auf elf Uhr”, sagt Stadelmann und hebt den Kopf in die entsprechende Richtung. „Da könnte etwas sein. Vielleicht ein Boot.”
Den Großteil des Jahres trägt Stadelmann eine schicke schwarze Uniform mit Hemd und Krawatte. Der 30-Jährige ist Pilot bei der Schweizer Fluggesellschaft Swiss und bringt normalerweise Passagier*innen zu Arbeitsterminen oder an ihre Urlaubsziele. An seinen freien Tagen fliegt er für die Schweizer Organisaton Humanitarian Pilots Initiative, die mit Sea-Watch zusammenarbeitet und von der italienischen Insel Lampedusa aus die Küsten überwacht.
Stadelmann fliegt mindestens eine Mission pro Tag. Im Sommer oft sogar zwei. Mehr als zwölf Stunden ist die vierköpfige Crew dann in der Luft. Den Blick hat er beinahe durchgehend auf das Meer gerichtet. Denn ein Radar zur Ortung von Schiffen besitzt die Maschine nicht.
Stadelmann sagt, er habe nicht das Gefühl, dass es für die europäischen Behörden das primäre Ziel sei, Menschen zu retten. „Eine Zeit lang befand sich kein einziges Schiff der zivilen Seenotrettungsorganisationen auf dem zentralen Mittelmeer. Jetzt sind es nur einige wenige.“ Damit seien die einzigen, die eingreifen könnten, die Seenotrettungsstellen in Malta oder Italien, die libysche Küstenwache oder irgendwelche Handelsschiffe.
Schlechte Aussichten. Nicht nur im Wasser, auch in der Luft werden Rettungseinsätze von NGOs zunehmend erschwert. Weil sie in Malta und Italien keine Flugerlaubnis bekommen hatte, musste die Moonbird eine Zeit lang von Griechenland aus operieren. Das bedeutete für die freiwilligen Helfer*innen dreieinhalb Stunden Flugzeit, nur um das Gebiet überhaupt zu erreichen, das sie überwachen sollten. Vor Ort blieben dann nur knapp zweieinhalb Stunden, bis der Treibstoff sich dem Ende zuneigte und sie zurückkehren mussten.
Diese Zeit reichte jedoch aus, um neben der Suche nach Schiffbrüchigen die neue Vorgehensweise der EU zu beobachten. Eine, die durch den Einsatz von Flugzeugen maßgeblich vorangetrieben wird.
„Man merkt beinahe bei jeder Mission, dass seitens der europäischen Behörden versucht wird, Menschen auf der Flucht zurück nach Libyen oder Tunesien zu drängen“, sagt Stadelmann. Wenn die Crew der Moonbird ein Boot in Seenot vorfindet, gibt sie dessen Position an die zuständigen Seenotleitstellen durch und hofft, dass diese reagieren. „Das endet jedoch meist so, dass die entweder gar nicht reagieren oder über uns nicht bekannte, inoffizielle Kommunikationswege die libysche Küstenwache auf die Boote hetzen, um die Menschen aufzugreifen und nach Libyen zurückzubringen”, sagt Stadelmann.
Vera Deleja-Hotko ist freie Journalistin mit den Schwerpunkten Migration, soziale Ungleichheit, Rechtsextremismus und Westafrika.
Ann Esswein ist freie Journalistin und veröffentlicht in Radio, Print und Video zu Auslandsthemen.
Bartholomäus von Laffert ist freier Journalist und arbeitet zu Flucht, Migration und der Externalisierung der EU-Außengrenze.
Daniela Sala ist freie Fotografin und Multimedia-Journalistin. Sie arbeitet zu Migration, Menschenrechten und Aktivismus in Europa, im Nahen Osten und in Nordafrika.
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