Genau um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts, 23 Jahre nach dem literarischen Nobelpreisträger-Landsmann García Márquez, wurde Tomás González in Medellín geboren, jener Stadt, die später als Zentrum des Drogenkartells von Pablo Escobar und als Zentrum entfesselter Gewalt bekannt wurde. Escobar forderte am Höhepunkt seiner Macht den kolumbianischen Staat heraus, wollte ihn erpressen, ließ von seinen jugendlichen Killern, den sicarios, Hunderte von Polizisten umbringen, und die Polizisten knallten die kleinen Drogenhändler nieder und paramilitärische Söldner legten reihenweise Richter und missliebige Politiker und AktivistInnen sozialer Bewegungen um. Diese Situation ist der Nährboden zahlreicher literarischer Werke der letzten zwei Jahrzehnte, von Arturo Alape, Fernando Vallejo, Jorge Franco und anderen.
Tomás González ist ein großer Geschichtenerzähler, und die Handlungsabläufe seiner Geschichten sind dem „normalen“ Alltag, man könnte auch sagen, dem banalen Leben entnommen. Während García Márquez und Epigonen die Alltäglichkeit mit der Erfindungsgabe und Sprachkraft des magischen Realismus verzaubern und andere die alltägliche Gewalt in den Mittelpunkt des Erzählens stellen, steht bei González die Condition humaine, die menschliche Existenz schlechthin im Zentrum. Wobei die ProtagonistInnen der Geschichten einer schicksalhaft anmutenden Entwicklung unterliegen, an deren Verlauf sie nicht unwesentlich beteiligt sind.
Diese Eigenbeteiligung am Schicksal, das zu einem Verhängnis oder zu Krankheit und Tod führt, steht zwar häufig in einem allgemein-existenziellen Kontext, hat jedoch nichts Klassisch-Griechisches an sich. „Not, at any rate, an attic grace“, könnte man mit Ezra Pound sagen: González beschwört keine Tragödien herauf, inszeniert keine dramatischen Schicksale; seine „Helden“ sind Versatzstücke aus dem alltäglichen Leben, die vielleicht irgendeinen Tick haben, oder mehrere, aber sonst ganz normal sind.
Boris etwa, die Hauptperson in der Erzählung „Ein unwahrscheinliches Grün“, ein junger Maler an der Schwelle zur öffentlichen Anerkennung, zur künstlerischen Karriere, wird durch den Tod einer nahe stehenden Person „aus der Bahn geworfen“, wie es die Umgangssprache so treffend formuliert. Er könnte versuchen, diesen Verlust mit Unterstützung seiner liebe- und verständnisvollen Frau oder mit einer Therapie oder durch eigene Kraft zu überwinden, doch nein: In einer trotzigen, verbissenen Verweigerungshaltung lässt er sich dem Abgrund, dem sozialen und physischen Verfall zutreiben. Hier kommt eine bezeichnende Eigenschaft des Autors zum Vorschein: González streut in diese Geschichte des unaufhaltsamen Abstiegs immer wieder Momente der Achtung vor dem Menschen, der menschlichen Würde, des Mitfühlens mit den gesellschaftlich Gestrandeten ein.
„Horacios Geschichte“ ist eine literarische Sterbebegleitung par excellence. Der begeisterte Antiquitätensammler Horacio stolpert als sympathischer Tollpatsch seinem Tod entgegen, dem ersten Herzinfarkt, dem zweiten – und schließlich dem endgültigen physischen Ende. Dieses immer näher rückende Ende ist ständig präsent, doch steht der Protagonist dieser Tatsache hilflos, wie ohnmächtig gegenüber.
Die kolumbianische Kultur der Gewalt scheint nur in marginalen Details durch, wenn etwa ein LKW-Fahrer Gas gibt, um aus Spaß eine Meute Hunde zu überfahren, wenn Kinder absichtlich ein Pferd erschrecken, dessen Reiter durch den Sturz zum Krüppel wird … Die inneren und äußeren Ereignisse und Entwicklungen werden voller Poesie und mit einer großen Liebe zur Schöpfung und zu den Menschen dargestellt.
Der lange Weg zum Ende durchzieht auch das erste, 1983 in Bogotá erschienene Werk „Am Anfang war das Meer“, die Geschichte eines Aussteiger-Ehepaars aus Medellín, das in der Idylle der karibischen Küste seine Träume verwirklichen will. Doch der Versuch, sich in die afro-kolumbianisch dominierte Gesellschaft zu integrieren, eine eigenständige wirtschaftliche Basis aufzubauen und schließlich auch die partnerschaftliche Beziehung und die Sinnsuche, alles scheitert. Dennoch gibt es keinen Grund zur Verzweiflung, insinuiert der Autor; das Leben steht über dem Tod, so wie sich die Vegetation über die Gräber rankt und aus dem Kot des Bio-Klos fruchtbarer Dünger entsteht.
Binnen zwei Jahren hat der Schweizer Kleinverlag Edition 8 drei Bücher von Tomás González herausgebracht, alle für den deutschen Sprachraum entdeckt und meisterhaft übersetzt von Peter Schultze-Kraft.
Horacios Geschichte. Übersetzung unter Mitarbeit von Gert Loschütz und Jan Weiz, Zürich 2005, 172 Seiten, € 18,90
Am Anfang war das Meer. Roman. (Übersetzung wie oben.) Zürich 2006, 174 Seiten, € 18,80
Carola Dicksons unendliche Reise. Erzählungen. Übersetzung unter Mitarbeit von Peter Stamm, Gert Loschütz und Ofelia Schultze-Kraft. Zürich 2006, 138 Seiten, € 15,80
Ein neuer Band,
„Die Teufelspferdchen“, wird in Kürze erscheinen. Mehr Informationen über den engagierten Verlag auf
www.edition8.ch