Wenn immer mehr Nägel herausragen

Von Sven Hansen · · 2007/05

In Chinas Städten formiert sich langsam eine Zivilgesellschaft – mit ganz eigenen Charakterzügen. Die Ausbreitung des Internets ist dabei eine wesentliche Hilfe.

Die Bilder gingen Ende März um die Welt: Aus einer Baugrube in der südwestchinesischen Metropole Chongqing ragt ein einsamer Hügel mit einem zweistöckigen Ziegelhaus. Dessen BesitzerInnen haben den Abrissbaggern und der dahinter stehenden Koalition von kommunistischer Stadtverwaltung und kapitalistischen Immobilienfirmen drei Jahre lang mutig Widerstand geleistet, bis letztlich doch noch ein Kompromiss gefunden und ein gleichwertiger Ersatz angeboten wurde.
Diesen Kampf David gegen Goliath focht das Ehepaar Wu Ping und Yang Wu bei gekappten Versorgungsleitungen und angedrohter Zwangsräumung allein aus. 280 andere Haus- und WohnungsbesitzerInnen waren dem geplanten Einkaufszentrum längst gewichen. Doch Wu und Yang wurden Volkshelden. Ihnen galten die Sympathien von Millionen ChinesInnen, denen die Modernisierung des Landes zu rücksichtslos erfolgt.
Der von Bloggern zuerst publizierte Fall überwand mühelos die Zensur der Medien, denen die eloquente Frau Wu bereitwillig Interviews gab. Die Berichte hoben die Hemmschwelle zum Einsatz staatlicher Gewalt. So waren die Behörden schließlich selbst an einer friedlichen Lösung des Falles interessiert, der in den Medien „Nagelhaus“ genannt wurde. Der Begriff bezeichnet zum einen Häuser, die durch eine Hammer-ähnliche Entwicklung zerstört werden. Zum anderen sind herausragende Nägel eine Umschreibung für Bürger und Bürgerinnen, die sich nicht alles gefallen lassen.

Der Fall des Chongqinger „Nagelhauses“ ist nur ein Beispiel für Chinas wachsende und mutiger werdende Zivilgesellschaft. In ihr sind städtische Haus- und WohnungsbesitzerInnen und damit Angehörige der auf 150 bis 250 Millionen Menschen veranschlagten Mittelschicht treibende Kräfte. Sie haben ihren wirtschaftlichen Status gesichert und wehren sich jetzt zunehmend gegen Behördenwillkür. Sie verlangen eine stärkere Berücksichtung der eigenen Rechte gegenüber Bau- und Immobilienfirmen, die meist mit lokalen Kadern unter einer Decke stecken. Der Mittelschicht geht es dabei weniger um politische Umwälzungen als um eine Verbesserung der Regierungsführung.
Inzwischen sind „Nagelhäuser“ auch in anderen Städten bekannt. So wurde in Peking Anfang April ein „Nagelhaus“ abgerissen, dessen Besitzer auf der Baustelle des bereits halb fertig gestellten neuen Fernsehturms ausgeharrt hatten und einem Bürokomplex im Weg waren. Und im Finanzdistrikt der südlichen Metropole Shenzhen trotzte Mitte April eine Familie mit ihrem Haus noch immer der Stadtverwaltung, die dort einen 88-stöckigen Wolkenkratzer bauen will und bereits alle angrenzenden Häuser abgerissen hat. Die Familie wollte nicht eher weichen, bis die gebotene Entschädigung verdreifacht wird.
Solche Konflikte künftig reibungsloser zu regeln und dabei die Rechte von Haus- und Wohnungseigentümern zu schützen, ist Ziel des neuen Eigentumsrechts. Es stellt privaten mit staatlichem und kollektivem Besitz gleich und wurde nach jahrelanger Debatte im März vom Volkskongress, Chinas Scheinparlament, verabschiedet. Doch das Gesetz, das im Oktober wirksam wird, halten viele noch für zu vage.
Seit Beginn der Immobilien-Privatisierung in den 1990er Jahren haben sich in vielen Blocks WohnungseigentümerInnen zusammengeschlossen. Im Idealfall sind ihre Interessenvertretungen demokratisch organisiert, weshalb manche sie schon als potenzielle Keimzellen einer künftigen Demokratisierung des Landes sehen. Auf jeden Fall sind urbane WohnungsbesitzerInnen nicht nur finanziell besser gestellt und höher gebildet als die Bauern- oder Arbeiterschaft, sondern pochen auch stärker auf ihre Rechte, die sie von ihrem Besitz ableiten.

Ein weiteres Zeichen für die wachsende Zivilgesellschaft ist die steigende Zahl von Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Sie beträgt offiziellen Schätzungen zufolge drei Millionen. Dabei dürfen allerdings keine westlichen Maßstäbe angelegt werden. Ist im Westen das Hauptkriterium die Unabhängigkeit vom Staat, so gibt es das in China offiziell nicht. Organisationen benötigen für ihre Registrierung beim Ministerium für zivile Angelegenheiten die Patenschaft einer Behörde. Sonst bleibt nur die mühsame Arbeit in einer rechtlichen Grauzone.
Der Großteil der NGOs ist heute unregistriert, wird aber geduldet oder ignoriert. Manche konstituieren sich auch zum Schutz als Firma. Bei den meisten der über 300.000 Registrierten handelt es sich um eine Mischung aus Vertretung der Bevölkerung und der Ausgliederung staatlicher Behörden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie eher mit der Regierung zusammen arbeiten als sie zu bekämpfen, sagt Professor Thomas Gold von der Universität Kalifornien im kalifornischen Berkeley. Er ist Experte für die „Zivilgesellschaft mit chinesischen Charakterzügen“, wie er sie nennt.

Laut Gold reagiert die Regierung flexibel, solange NGOs sie nicht herausfordern. In den 1990er Jahren erkannte die Regierung den Vorteil von NGOs, um soziale Dienstleistungen trotz des Rückzugs des Staates aus der Sozial- und Gesundheitspolitik aufrecht erhalten zu können, um im Ausland Mittel für Entwicklungshilfe oder Umweltschutz zu mobilisieren, die dem Land sonst verwehrt blieben, oder um gesellschaftliche Interessen zu kanalisieren und diese so kontrollieren zu können. Wenig geschätzt werden Organisationen, die Anwaltschaft betreiben und einen gesellschaftlichen oder gar politischen Wandel anstreben.
Die Haltung der KP-Führung bleibt NGOs gegenüber ambivalent. Sie werden wegen ihres demokratischen und aufklärerischen Charakters und ihrer geringen Kontrollierbarkeit gefürchtet und insgesamt restriktiv behandelt. Andererseits werden NGOs benötigt, um die sozialen Folgen der Wirtschaftsreformen abzufangen. So räumt Wang Ming, Direktor des NGO-Forschungsinstituts der Eliteuniversität Qinghua in Peking, ein, dass NGOs bei der Abmilderung wachsender sozialer Konflikte eine nicht zu ersetzende Rolle spielen. Auch leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Kommunikation zwischen den sozialen Schichten. „China sollte Nichtregierungskräfte besser mobilisieren, um seine Konfliktlösungsmechanismen zu stärken“, sagt Wang, der als Mitglied der offiziellen Konsultativkonferenz die Regierung berät.

Hilfreich beim Aufbau der Zivilgesellschaft ist auch die Ausbreitung des Internet sowie die Verrechtlichung von Konflikten. Das Internet, das in China hauptsächlich von der urbanen Mittelschicht genutzt wird, ermöglicht trotz Zensur und Verhaftungen von Cyber-Dissidenten breite Debatten jenseits staatlicher Direktiven. Und mit dem landesweiten Anstieg der Zahl der Rechtsanwälte von wenigen Dutzend 1977 auf heute 130.000 ist nicht nur die Zahl der Prozesse sprunghaft gestiegen. Auch wenn die meisten Anwälte politisch heikle Fälle meiden, sind doch einige Juristen führend bei der Durchsetzung bürgerlicher Interessen und oftmals das Rückgrat von Protestbewegungen und aufmüpfigen Bürgergruppen.

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