„Ein Leuchtkäfer, der unsere Zukunft erhellt“

Von Patricio Luna · · 2007/04

Der Kulturminister Ecuadors, der Dichter Antonio Preciado, im Südwind-Gespräch über Rezepte und Konzepte aus der Krise, die Rolle der Kultur und den Kurs des neuen Präsidenten Correa. Das Interview führte in Quito unser Mitarbeiter Patricio Luna.

Südwind: Am 15. Jänner, dem Tag seiner Amtseinführung, gründet Präsident Rafael Correa per Dekret das Kulturministerium. Woher plötzlich diese Aufwertung für das Stiefkind Kultur, für das bisher gerade ein Referat im Bildungsministerium zuständig gewesen war?
Antonio Preciado:
Die neue Regierung kommt ohne ein klares Konzept für Kultur nicht aus und kann auf sie nicht verzichten. Kultur ist die Wesensart eines Volkes, umfasst materielle und immaterielle Werte wie Sprache und Gewohnheiten. Es geht um Partizipation und um die Festigung unserer Identität als Ecuadorianer, darum, dass wir alle diesem Land angehören, genauso wie das Land uns allen gehört. Die Schaffung dieses Ministeriums war eine politische Entscheidung.

Der Präsident hat eine „Revolution der Bürgerinnen und Bürger“ ausgerufen, er möchte das Land aus den „Fesseln der Vergangenheit“ und aus den „Klauen der Mafias“, die sich überall im Staat eingenistet haben, befreien. Wie soll das denn vor sich gehen?
Ecuadors politisches System ist am Ende. Das Land ruft nach dringenden Veränderungen. Es steckt in der Sackgasse. Die Vision Correas ist, neue Spielregeln – eine neue institutionelle Ordnung – zu schaffen, um den Weg für Veränderungen zu ebnen. Der zweite, zentrale Punkt seines politischen Projekts ist, dass das Volk wieder zum Nutznießer des gesellschaftlichen Reichtums werden soll.

Welche sind Ihrer Meinung nach die Gründe dafür, dass Ecuador seit Jahren – manche meinen: Jahrzehnten – ständig vom Regen in die Traufe wandert? Seit elf Jahren hat kein Präsident sein Mandat regulär beendet, sondern ist abgesetzt, entmachtet oder gestürzt worden.
Die Gründe dafür liegen in unserer Geschichte. Mit der Unabhängigkeit vor fast zweihundert Jahren entstand zwar ein souveräner Staat. Doch eine Elite – eine Elite aus Weißen und Mestizen, nicht alle, aber ein Teil davon – bemächtigte sich des Staates. Ihr Ziel war es, sich zu bereichern. Diese Elite ist auch heute noch auf ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen aus. Sie sind die Herren über den gesellschaftlichen Reichtum – der in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt ist. Der Großteil der Bevölkerung, Weiße wie Mestizen, die die Mehrheit der Bevölkerung darstellen, und auch meine Ethnie, die Schwarzen, ganz zu schweigen von der indianischen Bevölkerung, sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie werden ignoriert. Das geht jetzt schon fast zwei Jahrhunderte so. Und jetzt kommt eine junge Figur wie Correa und möchte diesen Ballast über Bord werfen. Er stellt die Verbesserung des Lebens aller in den Mittelpunkt.

Andere vor ihm haben das auch schon versprochen – mit bislang aber höchst dürftigen Ergebnissen.
Sämtliche Versuche rechtlicher Reformen und von Verfassungsänderungen hatten bislang nur kosmetischen Charakter. Sinn und Berechtigung lagen nur darin, die Interessen und die Macht der Herrschenden, deren Habgier unersättlich ist, zu sichern. Wie ein Spinnennetz hat unsere Elite ihre Tentakel über alle Institutionen gelegt, wie das Parlament, die Justiz, über die Kontrollbehörden des Staates. Institutionen wurden nach ihrem Gutdünken und maßgeschneidert nach ihren Interessen geschaffen, umgebaut oder, wenn nötig, verändert, mit dem einzigen Ziel: die eigenen Pfründe zu sichern. Die Elite braucht selbst gar nicht an der Macht zu sein, übt aber dennoch die Macht aus. Sie legt Bedingungen und Spielregeln fest und zwingt sie den jeweils Amtierenden auf. Das hat dem Land sehr geschadet. Wir sagen: Die Macht ist entführt worden, sie ist zu einer Geißel verkommen.

Und wie kann man hier etwas verändern?
Der Verfassung nach ist Ecuador ein „multikulturelles“ und „pluriethnisches“ – ein aus einer Vielzahl von Völkern bestehendes – Land. Die Elite beschwört immer unsere „Einheit in der Vielfalt“ sowie dass alle gleiche Rechte haben. Doch das ist eine Beschönigung, und jeder weiß, dass das nicht wahr ist. Ähnlich wie bei der Rechtfertigung der Sklaverei liegt hier ebenfalls eine vom Ausbeutungsdenken geprägte kulturelle Sichtweise zu Grunde: Dass die Ausgegrenzten und die Ausgeschlossenen – die Indígenas und wir, die Schwarzen – nichts weiter als billige Arbeitskräfte sind. Wir leben in diesem unterschwelligen und diskriminierenden gesellschaftlichen Widerspruch. Dieser wurde aber immer verdeckt. Jetzt erwachen die Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten und wollen tief greifende Veränderungen. Selbstverständlich gehört die Kultur auch dazu. Es geht um Zugehörigkeit. Kultur ist ein Querschnittsthema, sie hat ganzheitliche Wirkungen und ihre Effekte sind politischer Natur.

Sie müssen ein ganzes Ministerium aus dem Nichts aufbauen, doch Ihr Budget steht noch nicht genau fest. Sie müssen Büros, Schreibtische, Computer, Personal beschaffen.
In Ecuador gibt es rund 60 Einrichtungen, die sich mit Kultur befassen. Doch Kultur wurde bisher immer in vertikaler, willkürlicher, elitärer, hierarchischer und zentralisierter Form gehandhabt. Ein Budget ist im Staatshaushalt vorgesehen. Und das Finanzministerium prüft gerade, wo Finanzmittel – aus Einsparungen an anderen Stellen – für uns frei zu stellen sind. Wir müssen uns den Vorwurf anhören, wir wollten die Kultur „verstaatlichen“, zu einer reinen Angelegenheit des Staates machen. Ich habe mich mit Botschaftern wie denen von Frankreich, Deutschland, den USA, Israel und auch Kuba und Venezuela sowie auch mit dem Privatsektor getroffen. Wir suchen nach Wegen interner und externer Kooperation. Und wir sind recht zuversichtlich.

Sie müssen sich auch immer wieder den Vorwurf anhören, Correa ahme in Ecuador ein Modell à la Chávez nach, er wolle einen „ecuadorianischen Chavismo“ einführen.
Wir freuen uns über die positive aktuelle Situation im Kontinent, über die lateinamerikanische Brüderlichkeit und über die Rückbesinnung auf so bedeutende Denker und Schöpfer wie José Martí, Simón Bolívar, José María Morelos oder Sandino. Alle wollten ein freies – und kein unterjochtes – Amerika. Ecuador muss seinen Teil dazu beitragen. Und natürlich nehmen wir gerne die ausgestreckte Hand von Bruderländern wie Venezuela in Anspruch. In Caracas wird ein Kongress aller Kulturminister Lateinamerikas stattfinden. Es geht um Kooperation auf süd- und lateinamerikanischer Ebene. Wir werden bald das „Erste Nationale Kulturforum“ hier haben und mit interkulturellen Dialogen beginnen, unter Beteiligung aller unserer Ethnien. Daraus sollen eine Kulturagenda und ein Kulturplan entstehen.
Wir führen nicht nur künstlerische Aktivitäten aus. Im Moment haben wir das Glück, dass wir alle an die Kraft, die Dynamik und die integrierende Wirkung von Kultur glauben, ohne dafür gleich in Paternalismen zu verfallen oder in die starre Übertragung von Erfahrungen und Schemata anderer. Kultur ist wie ein Leuchtkäfer, der unsere Zukunft erleuchtet.

In Correas ersten acht Amtswochen glänzten seine Gegner und die Opposition nicht unbedingt durch bestechende Vorschläge, werfen ihm aber ständig Steine in den Weg. Wie sehen Sie das?
Die Haltung der Opposition ist in der Tat auf Konfrontation aus. Selten hatte es vorher so etwas mit einer derartigen Vehemenz und Dreistheit gegeben. Das ging bereits vor seiner Vereidigung los. Aber wir haben nichts anderes erwartet, waren darauf eingestellt.


Antonio Preciado, ausgebildeter Volkswirt und Politikwissenschaftler, wurde am 21. Mai 1941 in der Provinz Esmeraldas geboren, wo der Großteil der afroecuadorianischen Bevölkerung lebt. Er zählt zu den anerkanntesten Poeten Lateinamerikas und der Karibik in der Tradition der „Négritude“, die sich mit der Kultur des schwarzen Amerika befasst. Sein Werk umfasst ein Dutzend Gedichtbände. An seiner Poesie werden besonders Ausdruckskraft, Musikalität und die Besinnung auf afroecuadorianische Weisheiten und Mythen geschätzt. Deutsche Übersetzungen liegen bislang nicht vor.
Preciado war mehr als zwei Jahrzehnte Leiter der Kulturabteilung der Zentralbank Ecuadors, Universitätsrektor und von 2002 bis 2003 Botschafter bei der UNESCO. Im ersten Wahlgang gab er nicht Correa seine Stimme, sondern dessen Herausforderer León Roldós. Am 15. Januar ernennt ihn Correa, ein erklärter Bewunderer seines Werks, zum Kulturminister.

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