Umstrittene Entwicklung

Von Jürgen Gottschlich · · 2006/11

Der Streit um den Ilisu-Staudamm ist zwar noch nicht so alt wie die Ruinen von Hasankeyf, zieht sich aber doch schon etliche Jahre hin und ist fest mit der türkischen Innenpolitik verwoben.

Der Hauptgrund, warum der Ilisu-Staudamm bislang noch nicht gebaut wurde, sind nicht die Proteste vor Ort und der internationalen Umweltverbände, sondern schlichter Geldmangel des türkischen Staates. Denn der Ilisu-Damm ist kein isoliertes Staudamm-Projekt, sondern Teil von GAP, dem Südanatolischen Entwicklungsprojekt, dem ehrgeizigsten Entwicklungsprojekt der Türkei überhaupt, das schon Mitte der 1970er Jahre entwickelt und in den 1980er Jahren begonnen wurde.
GAP ist sozusagen die technisch-ökonomische Antwort der türkischen Elite auf den Kurdenkonflikt. Die zentrale These der türkischen Sozialdemokraten wie dem früheren Premier Bülent Ecevit und seinem konservativen Widerpart Süleyman Demirel war immer, man habe im Südosten der Türkei kein ethnisches Problem, sondern ein Entwicklungsproblem. Nur weil die kurdisch besiedelten Gebiete des Landes so arm sind, gebe es scheinbar ein Kurdenproblem.
Unter maßgeblicher Beteiligung von Demirel, der im bürgerlichen Beruf selbst Wasserbauingenieur war, wurde das Südanatolische Entwicklungsprojekt politisch vorbereitet. Aus dem sonnenverbrannten, kahl geschlagenen, unfruchtbaren Südosten der Türkei soll wieder ein Garten Eden werden, wie zu Beginn menschlicher Siedlungen vor gut 8.000 Jahren. Erreicht werden soll das durch insgesamt 22 Staudämme, die man an Euphrat und Tigris und ihren Nebenläufen bauen will, um das Wasser dann erstens zur Stromgewinnung und zweitens zur künstlichen Bewässerung gigantischer Flächen zu nutzen, die heute höchstens als karges Weideland zu gebrauchen sind.

Begonnen wurde GAP am Euphrat, mit dem Herzstück Atatürk-Staudamm, ähnlich riesig wie der jetzt geplante Ilisu-Damm. Damals galten Staudämme weltweit noch als Symbole des Fortschritts. Dass dafür Dörfer im Stausee versinken mussten, galt als insgesamt kleineres Übel verglichen mit dem Nutzen der Dämme. Die Weltbank verweigerte eine Mitfinanzierung von GAP denn auch nicht wegen ökologischer oder menschenrechtlicher Bedenken, sondern weil die anderen Euphrat-Anlieger, insbesondere Syrien, gegen das Vorhaben vehement protestierten. Syrien ist existenziell auf das Euphratwasser angewiesen und befürchtete zu Recht, dass sich die Wassermenge, die in Syrien ankommt, verringert. Die Türkei argumentierte damit, dass durch den Damm im Gegenteil unabhängig von Hoch- und Niedrigwasser des Flusses immer eine regelmäßige Durchflussmenge garantiert werden könnte. Der wirkliche Grund für den massiven syrischen Protest war denn auch ein anderer: man fürchtete, dass in einem Spannungs- oder gar Kriegsfall die Türkei Syrien ganz den Wasserhahn am Euphrat abdrehen könnte. Seit sich die politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern verbessert haben, ist das Euphratwasser deshalb auch kaum noch ein Thema.
Protestiert hatte auch der Irak unter Saddam Hussein, allerdings weniger massiv als Syrien. Der Irak wird zwar Zweistromland genannt, das meiste Wasser kommt jedoch nicht über den Euphrat, sondern über den Tigris. Der Ilisu-Damm soll nun zwar den Tigris aufstauen, doch auch das wäre für den Irak nicht so dramatisch, weil die beiden wichtigsten Zuflüsse, der Große und der Kleine Zab, auf irakischem Staatsgebiet den Tigris erst richtig auffüllen.

Am Euphrat ist nun seit Anfang der 1990er Jahre in ersten Ansätzen zu begutachten, was sich die türkischen Agrarökonomen von GAP insgesamt erhoffen. In gigantischen Röhren wird das Wasser des Atatürk-Staudammes unterirdisch über mehr als 30 Kilometer bis in die Tiefebene um Urfa geführt und dort in oberirdische Bewässerungskanäle gepumpt. Seitdem blüht die schon aus der Antike bekannte Harran-Ebene, das ist das Gebiet zwischen den uralten Städten Urfa und Aleppo, tatsächlich wieder. Gemüse, Getreide, vor allem aber Baumwolle gedeihen prächtig. Das anfangs auftretende Problem der Übersalzung etlicher Felder hat man mittlerweile über groß angelegte Tröpfchenbewässerung in den Griff bekommen. Auch wenn der Löwenanteil an den Gewinnen aus der neuen Landwirtschaft an Großgrundbesitzer geht, hat doch Urfa insgesamt einen merklichen Aufschwung genommen.
Diesen Erfolg wollte und will die türkische Regierung mit dem Bau des Ilisu-Dammes auf einer weit größeren Fläche wiederholen. Man hofft, die Bewässerung so weit nach Osten ausdehnen zu können, dass das gesamte Gebiet zwischen Euphrat und Tigris wieder zur Kornkammer des Landes wird. Diese Visionen waren schon Mitte der 1990er Jahre aus verschiedenen Gründen ins Stocken geraten. Zuerst einmal wurde das gigantische GAP-Projekt viel teurer als ursprünglich geplant. Dann wurde der durch die kurdische Arbeiterpartei (PKK) initiierte Bürgerkrieg im Südosten so massiv, dass an Staudammbauten mitten im Krisengebiet kaum noch zu denken war. Außerdem zeigte die Unterstützung der PKK durch weite Teile der kurdischen Bevölkerung, dass es für eine Befriedung durch ökonomische Entwicklung eigentlich schon zu spät war. GAP geriet mehr und mehr ins Hintertreffen.

Erst als nach der Gefangennahme und Verurteilung von PKK-Führer Abdullah Öcalan Anfang 2000 wieder Ruhe einkehrte, kam das Ilisu-Projekt wieder auf den Tisch. Es scheiterte, als die türkische Wirtschaft 2001 fast kollabierte und jede vorhandene Lira für einen Neuanfang gebraucht wurde. Mittlerweile ist wieder so viel Geld in der Staatskasse, dass, zusammen mit dem international üblichen Anteil an Fremdfinanzierung, Großprojekte wie Ilisu und einige Atomkraftwerke erneut angepackt werden können.
Dennoch hat der Staudamm am Tigris neben den Problemen, die industrielle Großprojekte dieser Dimension immer mit sich bringen, noch einen anderen Hintergrund als die geplanten AKWs. Obwohl der türkische Staat mittlerweile, anders als in den 1970er und 1980er Jahren, die kulturelle Identität der Kurden anerkennt, bleibt doch das Problem der extremen Armut in den kurdischen Siedlungsgebieten. Es reicht deshalb nicht, einfach den Staudamm-Bau abzulehnen. Notwendig wäre eine Diskussion, wie auf anderen Wegen der Südosten der Türkei wirtschaftlich entwickelt werden kann. Wenn hier der Regierung auch international Alternativen vorgeschlagen würden, hätte die Debatte insgesamt einen konstruktiven Schub nach vorn.

Der Autor ist Korrespondent der taz und lebt in Istanbul

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