Vor dem Tsunami lebten die Menschen auf den Nikobaren vom Fischfang, von der Jagd und dem Sammeln. Sie züchteten Schweine- und Hühner und tauschten Kopra, das getrocknete Kernfleisch von Kokosnüssen, gegen Reis, Zucker, Kleidung und Kerosin. Heute leben sie im höher gelegenen Hinterland in Notunterkünften und werden von der Regierung kostenlos mit Nahrungsmitteln versorgt.
Die InselbewohnerInnen wurden erstmals mit Begriffen wie Hilfe und Entwicklung konfrontiert. Sie haben Schwierigkeiten, die Dynamik dieser Prozesse zu begreifen. Rasheed Yusuf, ein lokaler Führer, fragte mich als erstes: „Bhai (Bruder), was ist das, NGO?“ 1956 wurden die Inseln gesetzlich unter Schutz gestellt, und die Einreise wurde strengen Beschränkungen unterworfen. Die Bevölkerung hatte nur wenig Kontakt mit der Außenwelt.
Die BewohnerInnen der Nikobaren – von 1778 bis 1783 war die Inselgruppe kurzzeitig Österreichs einzige Übersee-Kolonie – empfinden das Lagerleben als erdrückend. Sie können weder arbeiten noch zu ihrer früheren Lebensweise zurückkehren. „Wir brauchen keine Kekse und Chips. Wir müssen unsere Häuser aufbauen und unsere Gärten anlegen. Gebt uns Werkzeug, wenn ihr uns helfen wollt“, so hört man immer wieder. Manche glauben sogar, hinter dem Tsunami stecken äußere Mächte und fremde Siedler. „Das ist unser Land. Bitte lasst uns alleine. Sonst werden wir sicher sterben“, meint ein Führer von der Insel Katchal.
In Port Blair, der auf der Insel Süd-Andaman gelegenen Hauptstadt der Inselgruppen der Andamanen und Nikobaren haben 60 nationale und internationale NGOs ihre Büros eingerichtet. Da sie keine Einreiseerlaubnis für die Nikobaren erhalten, kümmern sie sich um die wenigen Notunterkünfte in der Stadt. Zwar versorgte die indische Regierung die Tsunami-Opfer mit Nahrungsmitteln, doch rissen sich die NGOs darum, Extras wie Nudeln, Käse, Hühnerfleisch, Schokolade, Cola etc. bereitzustellen. Dabei ernähren sich die Menschen aus religiösen und ethischen Gründen vegetarisch. Gut versorgt und ohne Arbeit, wandten sich die Lagerinsassen dem Alkohol zu, was in den Lagern zu Konflikten und sexuellen Belästigungen führte. Nicht einmal Polizistinnen wurden verschont.
Die lokale Bevölkerung registriert die Mengen an Nahrungsmitteln und Waren, die von den NGOs gekauft wurden, die vielen Nahrungsmittel, die wegen schlechter Organisation in Lagerhäusern verderben, die extrem hohen Gehälter ihrer Mitarbeiter vom Festland und ihren extravaganten Lebensstil in den besten lokalen Hotels. Auf der Hauptinsel Car Nicobar ist zu hören, dass die Hilfsorganisationen nicht mit Geschenken an indigene Führer sparen, um weiter auf der Insel bleiben und arbeiten zu können.
Die NGOs engagieren sich hauptsächlich in der Verteilung von Hilfsgütern (Haushaltsgüter, Werkzeuge, Kleidung, Boote etc.) und organisierten in den ersten paar Monaten nach dem Tsunami einige wenige Ausbildungsworkshops. Abgesehen davon stehen die meisten größeren Hilfsoperationen unter staatlicher Kontrolle, da NGOs nicht direkt vor Ort tätig werden dürfen, es sei denn im Auftrag oder in Zusammenarbeit mit der Regierung. Es gibt allerdings einige Ausnahmen. Oxfam India etwa gelang es, mit dem Stammesrat der Zentralnikobaren eine direkte Partnerschaft zu vereinbaren. Nach einem Jahr erwies sich die Zusammenarbeit aber als erfolglos, und der Rat weigerte sich, den Ende 2005 ausgelaufenen Vertrag zu erneuern. Dem Rat zufolge hielt sich Oxfam in der Praxis nicht an die propagierten Prinzipien Partizipation, Transparenz und Rechenschaftspflicht.
Nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit NGOs zieht Rasheed Yusuf die folgende Bilanz: „Sie sind großartige Schauspieler. Wenn sie kommen, bauen sie Kulissen auf, wie bei einem Film, und wenn sie mit den Dreharbeiten fertig sind, gehen sie wieder, und die Kulissen brechen zusammen.“
Die indische Regierung erwies sich als großzügig. Bald nach dem Tsunami kündigte sie eine Soforthilfe von 2.000 Rupien pro Familie an. Als die VerwaltungsbeamtInnen begriffen, dass die Urbevölkerung in Großfamilien lebt, schlugen sie vor (in guter Absicht), die Familien in Paare und Kinder aufzuteilen, damit jede der so gebildeten Kleinfamilien anspruchsberechtigt wäre. Es dauerte einige Zeit, die Menschen mit dem ihnen ziemlich fremden Konzept der Kleinfamilie vertraut zu machen. Die so entstandene Familienliste ist Grundlage aller weiteren Hilfsleistungen. Für Familienvorstände wurde ein Bankkonto eröffnet, um Schecks für die verschiedenen Entschädigungszahlungen ausstellen zu können. Das ist der Anfang der Auflösung der Großfamilien und Quelle zukünftiger Konflikte.
Entsprechend nationalen Grundsätzen kündigte die indische Regierung auch eine Geldentschädigung für die nächsten Verwandten jeder Person an, die beim Seebeben verstorben oder verschwunden war. Zusätzlich gab es Entschädigungen für verlorenes Land und verlorene Ernten. Insgesamt erhielten die meisten Familien Beträge zwischen einer halben bis eine Million Rupien (umgerechnet 8.500 bis 17.000 Euro).
Die traditionellen Regeln auf den Nikobaren entsprechen nicht der indischen Rechtslage. Etwa ist es auf den Zentralnikobaren üblich, dass der Ehemann als ungrung (Sklave) im Haushalt seiner Frau lebt. Daher hat er kein Recht auf das Vermögen seiner Frau oder ihrer Familie. Gemäß indischem Recht ist jedoch der nächste Verwandte im Falle des Todes einer Frau der Ehemann. Ohne Rücksicht auf das traditionelle System wurden Schecks auf den Namen des Ehemannes ausgestellt. Die Aussicht auf große Geldbeträge führte zu Gier und Eifersucht und zu Konflikten darüber, wer nun der nächste Verwandte der Gestorbenen ist.
Außerdem kam es durch die Entschädigungen für den Verlust von Land und Ernten (die ebenfalls nur an Kleinfamilien bezahlt wurden) zur Aufteilung von Land, das bisher in kollektivem Besitz stand, und damit zu innerfamiliären Konflikten. Traditionell steht Land im gemeinsamen Eigentum der Familie; Mitglieder erhalten lediglich Nutzungsrechte, in der Regel nur für ungenutztes Waldland. Pflanzungen gehören ausnahmslos denen, die die Bäume gesetzt haben, doch können unter besonderen Umständen, etwa als Gegenleistung für erwiesene Dienste, für begrenzte Zeit Nutzungsrechte vergeben werden. Ziemlich oft wurden bei den Entschädigungszahlungen Eigentum und Nutzungsrecht verwechselt.
Niemals zuvor haben die Menschen auf den Nikobaren soviel Geld zur Verfügung gehabt. Die Vorstellung, Geld zu investieren oder für einen zukünftigen Bedarf zu sparen, ist unbekannt. Wenn in einer Gesellschaft, deren Zeitbegriff sich auf die Gegenwart konzentriert, plötzlich große Mengen Geld verfügbar sind, sind in jedem Fall Probleme zu erwarten.
Unmittelbar zu beobachten sind vermehrte Käufe von Konsumgütern wie Motorrädern, TV-Geräten, Mobiltelefonen, Musikanlagen und Fertignahrung, alles zu hohen Preisen und über lokale Händler. Die Einheimischen haben eine besondere Vorliebe für Whisky und Rum entwickelt. Viel Geld wird für schlechten, aber extrem teuren, weil illegal eingeführten Schnaps ausgegeben.
In dieser Situation fehlt natürlich der Anreiz, Geld zu verdienen. Die Landwirtschaftsprogramme der Regierung leiden darunter. Von den bereitgestellten Setzlingen (Kokospalmen und Cashewnuss) konnten nicht einmal die Hälfte vor dem Monsun gepflanzt werden. Nach einem Jahr war kaum ein Viertel des Budgets ausgegeben, weil einfach keine Arbeitskräfte aufzutreiben waren. Die BewohnerInnen der Nikobaren selbst sind sich kaum bewusst, dass sie nicht nur Opfer der Katastrophe, sondern auch der Zeit danach sind. Ein weiser alter Mann äußerte sich dazu treffend: „Wenn es mit der Hilfe vorbei ist, werden meine Leute Schwierigkeiten haben, zu ihrem normalen Leben zurückzufinden. Es wird schwierig sein, sich aus der durch übermäßigen Alkoholkonsum entstandenen Sucht zu befreien und sich wieder an die Arbeit zu gewöhnen. Das wird sogar schwieriger sein als das zu bewältigen, was der Tsunami bewirkt hat.“
AutorenInfo:
Simron Jit Singh machte nach dem Studium der Umweltwissenschaften das Doktorat in Humanökologie an der Universität Lund in Schweden. Seit 1999 lebt er in Wien und reiste seit damals mehrmals zu längeren Studienaufenthalten auf die Nikobaren (s. SWM 7-8/2000). Zuletzt erschien von ihm im Wiener Czernin-Verlag das Buch „Die Nikobaren – Das kulturelle Erbe nach dem Tsunami“ (Rezension SWM 1-2/06).