Nach eigener Ansicht ist der Fußballweltverband FIFA weltweit populärer und einflussreicher als die UNO. Das Selbstbild mag vermessen sein, doch bieten Sport und vor allem Fußball enormes Potenzial für Friedensarbeit und Entwicklung. Allerdings ist seine Verknüpfung mit Männlichkeit nur schwer zu lösen.
Für den mächtigen Fußballweltverband FIFA ist Entwicklung kein Fremdwort. Präsident Joseph S. Blatter erklärt seine Organisation gar zur „bedeutendsten Entwicklungsagentur der Gegenwart“. Dieselbe Ansicht vertritt auch Urs Zanitti, verantwortlich für die FIFA-Entwicklungsprogramme, im schweizerischen Magglingen. Dort ist mit der Abschlusskonferenz im Dezember das von der UNO ausgerufene Internationale Jahr des Sports und der Sporterziehung zu Ende gegangen. „Wenn wir uns anstrengen, können wir einen besseren Job als die UNO machen, denn wir sind unpolitisch“, verkündet Zanitti und weist stolz darauf hin, dass seine Organisation mit 207 Ländern mehr Mitglieder zählt als die UNO mit ihren 191. Mit 240 Millionen aktiven KickerInnen in 1,5 Millionen Vereinen weltweit verfügt der Verband tatsächlich über großes Potenzial.
Wie vor einem Jahrzehnt das Konzept „Kultur“ erscheint immer mehr die positive Kraft des Sports als das lang gesuchte Missing Link für eine funktionierende Entwicklungszusammenarbeit. Adolf Ogi, Sonderberater von UNO-Generalsekretär Kofi Annan in Sachen Sport, erklärt: „Der Sport ist die wirkungsvollste und billigste Waffe im Kampf um eine bessere Welt.“
Die Vorstellung, mittels des Sports soziale Probleme in den Griff zu bekommen, ist so alt wie der moderne Sport selbst. Den Anfängen des Fußballs in der britischen Kolonie Goldküste, dem heutigen Ghana, lag eine moralische Absicht zugrunde. Um die männliche Jugend vom Alkohol fernzuhalten, organisierten die euro-afrikanischen Eliten in der Hafenstadt Cape Coast in den 1880er Jahren Sportnachmittage, bei denen neben Kricket auch Fußball gespielt wurde. Später entdeckten auch die britischen Kolonisatoren die Nützlichkeit der Teamsportarten für die moralische Erziehung von Buben. Die Tugenden, die durch Fußball und andere Teamspiele befördert werden sollten, waren ausschließlich männlich kodiert: Widerstandsfähigkeit, Robustheit, Beharrlichkeit und Gleichmut. Die frühe Verknüpfung von Fußball mit der Repräsentation von Männlichkeit verstärkte sich noch in der Phase der Dekolonisierung. Sie lebt mit Ausnahme Nordamerikas bis heute weltweit fort. In den um 1960 in die Unabhängigkeit entlassenen afrikanischen Nationalstaaten südlich der Sahara wurde Männer-Fußball ein immer wichtigeres Element des „nationalen Charakters“. So rief Ghanas erster Präsident Kwame Nkrumah den Modellclub der „Real Republicans“ – echte Republikaner – ins Leben. Ihre Aufgabe bestand nicht nur darin, Fußball zu spielen, sondern auch „Botschafter des neuen Geistes des afrikanischen Mannes“ zu sein.
Wenn auch der hehre Anspruch nicht hält, mit Fußball als universellem Wundermittel eine friedlichere und gerechtere Welt zu schaffen, so existieren doch eine Reihe beeindruckender Initiativen, die Sport als Mittel sozialer Entwicklung einsetzen. Ein Paradebeispiel ist die 1987 mit Hilfe der norwegischen Entwicklungsagentur NORAD gegründete Mathare Youth Sport Association (MYSA) in Nairobi. Im Armenviertel Mathare leiden die 500.000 BewohnerInnen besonders unter der Verschmutzung der Umwelt, der hohen Kriminalität und der fehlenden Gesundheitsversorgung. Über das Medium Fußball ist es in den letzten 20 Jahren gelungen, eine funktionierende soziale Infrastruktur aufzubauen. Heute ist die MYSA mit 14.000 Mitgliedern eine der größten Jugendorganisationen in Afrika. Es spielen über 800 Buben- und 200 Mädchenteams in 100 eigenen Ligen. Neben sportlicher Betätigung bietet die MYSA auch ein Stipendien- und Berufsbildungsprogramm an. Teams, die mit Schaufel und Rechen ausgerüstet freiwillig auf Müllentsorgungstour gehen, bekommen dafür sechs Punkte in der Tabelle gutgeschrieben. Die NachwuchsspielerInnen sind darüber hinaus als Aids-BeraterInnen im Slum unterwegs, wie übrigens auch die Profispieler von Mathare United. Die „Slumboys“ schafften den Aufstieg in Kenias oberste Liga. Fünf Prozent der Einnahmen aus Spielertransfers kommen wiederum dem Projekt zugute. Vor kurzem erst wurde ein Mathare United-Spieler in die französische Liga vermittelt. Die 60 hauptamtlichen MitarbeiterInnen der MYSA sind inzwischen in der Lage, Aufbauarbeit bei Projekten in anderen Teilen Kenias zu leisten.
Eine andere Erfolgsgeschichte schrieb das Projekt „Fútbol por la Paz“ – Fußball für den Frieden – in den Straßen von Medellín in Kolumbien. Begonnen hat es als Reaktion auf die Ermordung von Andrés Escobar. Der kolumbianische Nationalteamspieler wurde 1994 vor einer Bar in Medellín auf offener Straße erschossen. Er hatte im WM-Spiel gegen die USA ein Eigentor verschuldet. Jürgen Griesbeck von Streetfootballworld in Berlin hatte Escobar über die Familie seiner Frau gekannt. Mit anderen nahm er sich vor, die fanatisierende Kraft des Fußballs für positive Ziele zu kanalisieren. „In den unter Gewalt leidenden Vierteln begannen wir mit Straßenfußball“, erzählt der Mitbegründer von „Fútbol por la Paz“. „Es war klar, dass die Frauen dabei sein müssen. Die Regeln haben wir so manipuliert, dass immer die Mädchen das erste Tor schießen. Für die Jungs war das nur schwer zu akzeptieren, da sie ja ihre soziale Identität über das Tore schießen definieren“. Von Medellín aus trat das Projekt einen Siegeszug durch das ganze Land an. Das Jugendministerium übernahm die Methode, und heute beteiligen sich 17.000 Jugendliche in 1.600 Mannschaften landesweit.
Ob nun die FIFA die bedeutendste Entwicklungsagentur ist, darüber lässt sich streiten. Tatsache ist, dass sie in Sachen Entwicklung ernst zu nehmen ist. Neben den beträchtlichen Mitteln, die in die weltweite Fußballförderung fließen, hat sich die FIFA darauf festgelegt, mindestens 0,7 Prozent ihrer Gesamteinnahmen für „Entwicklungsprogramme durch Fußball“ zu verwenden. Damit folgt sie den Vorgaben der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung von 2002 in Monterrey. Und sie wird nicht müde zu betonen, dass diesen Wert nur sehr wenige Industrieländer erreichen.
Unter dem Motto „Football for Hope“ finanziert die FIFA eine große Bandbreite von Projekten. Sie reicht von Konfliktprävention in Ruanda, Sierra Leone und Palästina über die Integration von Behinderten in Afghanistan, Marokko oder Tansania bis zur Unterstützung von Flüchtlingen aus Darfur. Ein weiterer Schwerpunkt sind HIV/Aids-Aufklärungsprogramme in Afrika und die globale Kampagne „Go Girls“ für das Grundrecht auf Bildung für Mädchen.
Im Bereich Antidiskriminierung ist die FIFA dieses Jahr eine Allianz mit dem in Wien gegründeten Netzwerk Fußball gegen Rassismus in Europa (FARE – „Football Against Racism in Europe“) eingegangen. FARE findet sich damit in einem Kreis angesehener Organisationen wieder, darunter das Kinderhilfswerk UNICEF, die WHO oder SOS-Kinderdorf International. Der vom Vorarlberger Hermann Gmeiner ins Leben gerufenen Organisation ist die offizielle karitative Kampagne der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 gewidmet: Das Geld für sechs neue Kinderdörfer soll beschafft werden. Bei der Strahlkraft des globalen Mega-Events sollte dies ein Kinderspiel sein.
Kurt Wachter ist seit 1997 am Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit (vidc) Koordinator der Kampagne FairPlay. Viele Farben. Ein Spiel. Während der Fußball-WM ist er für das FARE Netzwerk in Deutschland unterwegs.