„Ich hätte auch meine Mutter erschossen“

Von Jeroen Kuiper · · 2006/05

Ein Schwerpunkt der Regierungsarbeit von Präsident Àlvaro Uribe ist die Demobilisierung illegaler bewaffneter Akteure in Kolumbien, vor allem der Paramilitärs. An die 25.000 haben bereits kollektiv die Waffen niedergelegt. Andere wählen die individuelle Form der Rückkehr ins zivile Leben.

Augusto entspricht dem Wunschbild eines idealen Schwiegersohns. Mit seinem gestreiften Hemd und seinem gewinnenden Verhalten kann man sich nicht vorstellen, dass dieser Zwanzigjährige bei der Eroberung eines kolumbianischen Armeepostens im Süden Kolumbiens dabei war. Aber Augusto ist Deserteur, er hat die Reihen der „Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens“, der FARC, verlassen. Ein wagemutiger, riskanter Schritt.
„Ich war 13, als ich mich den FARC anschloss. Es gab eigentlich keinen triftigen Grund für diesen Schritt. Dort, wo ich wohnte, im Osten Kolumbiens, kontrollierten die FARC die Gegend. Es gibt wenig Arbeit, und so dachte ich: schauen wir mal, rein ins Abenteuer! Der Krieg ist etwas Faszinierendes. In jedem Kampf spürst du Angst, aber es ist einfach aufregend, wenn man die Explosionen hört, wenn man in einen Kampf verwickelt ist.“
Am Anfang bekamen sie viel Unterricht und Augusto fand die Ideen der FARC gut: „Wir studierten viel Marx und Lenin. In dieser Zeit war ich bereit, für die Sache zu sterben. Wenn mein Kommandant von mir verlangt hätte, meine Mutter an einen Pfahl zu binden und zu erschießen – ich hätte das für die Sache getan.“
Die Ideen von FARC-Chef Marulanda findet Augusto im Prinzip noch immer gut. Aber er kritisiert, dass es in seiner großen Armee mittlerweile viele schlechte Kommandanten gäbe. Diese würden nicht mehr für die revolutionäre Sache kämpfen, sondern seien in Drogengeschäfte verwickelt und finanzierten sich auch mit Erpressungen.

Augusto war an vielen Kämpfen beteiligt, unter anderem am berühmten Angriff auf die Dschungel-Armeeschule Coreguajes im Departement Putumayo. Über 30 Soldaten der Armee kamen dabei ums Leben. Doch langsam wurde die Kritik an der Guerilla immer stärker in ihm. „In den letzten Jahren gab es so viele Probleme mit der Disziplin in den FARC, dass ich beschloss, zu desertieren. Außerdem habe ich die politische Lage in Lateinamerika studiert. In Kuba ist die Revolution innerhalb kurzer Zeit gelungen. Und Simón Bolívar befreite innerhalb von zwanzig Jahren fünf Länder von den Spaniern. Aber in Kolumbien kämpfen wir schon über 40 Jahre und haben immer noch nicht unser Ziel erreicht. So funktioniert eine Revolution nicht.“
Wegen seiner kritischen Haltung wurde es für Augusto allmählich gefährlich. Ein befreundeter Kommandant warnte ihn, dass er wahrscheinlich bald vor ein Kriegstribunal komme. Er flüchtete mit einem Boot und gelangte so zum nächsten Armeeposten. Dort wurde er acht Tage lang verhört und schließlich in Bogotá ins Programm für Demobilisierte aufgenommen. Das bedeutet zwei Jahre lang finanzielle und psychologische Unterstützung und eine Ausbildung. Es war keine einfache Zeit für Augusto. „Die Zeit nach der Guerilla ist viel schwieriger als in der FARC. Vorher wurde alles für mich geregelt, mein Essen, meine Kleidung, wo ich hinging. Ich musste nur Befehle ausführen. Jetzt muss ich selber meinen Weg finden. Das ist nicht leicht in einer Großstadt wie Bogotá. Außerdem habe ich Angst. Wer weiß, vielleicht kommt einer, um mich zu erschießen.“ Augusto befürchtet, dass ein Kolumbien ohne Gewalt und Drogen unmöglich sei, dass die Situation eher noch schlimmer werde: „Von den 45 Millionen Kolumbianern sind 10 Millionen bewaffnet. Persönlich will ich nur, dass es meiner Familie gut geht. Ich habe jetzt eine Frau und ein Baby. Ich verkaufe Lose auf der Straße. Aber ich will meine eigene Firma aufmachen.“

Männer und Frauen wie Augusto gibt es mittlerweile zu Tausenden in Kolumbien. Ein nicht geringer Teil von ihnen hat sich in sehr jungen Jahren den Rebellen angeschlossen. Etwa zwanzig Prozent von ihnen sind weiblich. Egal ob es um ehemalige KämpferInnen der AUC, der ELN oder der FARC geht, bei den meisten ist der Grund, sich anzuschließen, eher unspektakulär. Langeweile, keine Aussicht auf einen Job, Bekannte machen auch mit … Bei anderen ist wiederum ihre Vorliebe für Waffen und Aktion ausschlaggebend.
Die meisten steigen aus, weil sie nicht (mehr) mit der Politik ihrer Gruppe einverstanden sind oder weil sie den Terror ihrer Gruppe nicht mehr aushalten. Erpressung, Entführung, Erschießung von Geiseln, willkürlicher Terror gegen ZivilistInnen, massiver Drogenschmuggel, das ist die Realität bei allen illegalen bewaffneten Akteuren. Die ehemaligen KämpferInnen sehen die Zukunft ihres Landes ausnahmslos negativ. Ein Kolumbien ohne Gewalt und ohne Drogen? Dafür sind die dazu gehörenden Verdienstmöglichkeiten viel zu gut. Die „Rückkehrer“ wollen nur eines: für ihre Familie sorgen, einen Arbeitsplatz, vielleicht ein kleines Geschäft.

Einige Tage später in Medellín, der Hauptstadt des nordkolumbianischen Departements Antioquia. Wer Medellín sagt, denkt sofort an Pablo Escobar und an das Drogenkartell, das in den 1980er und 1990er Jahren den Staat mit allen Mitteln bekämpfte. Zwischen 1985 und 2002 starben in dieser Stadt über 80.000 Menschen eines gewaltsamen Todes. Mittlerweile ist Medellín aber ruhiger geworden, die Drogen- und Jugendbanden bekämpfen einander nur mehr sporadisch.
„Ich bin sehr kritisch gegenüber diesen Demobilisierungsprozessen, aber trotz allem werden wir wohl damit weiter machen müssen. Es gibt nämlich keine Alternative“, erzählt Alonso Cardona, Direktor der NGO Conciudadanía in Medellín. Diese Nichtregierungsorganisation hat sich die Stärkung der Demokratie zum Ziel gesetzt. „Vor allem an der kollektiven Demobilisierung habe ich meine Zweifel“, setzt Cardona fort. „Nach Angaben der Organisation Amerikanischer Staaten haben sich bis jetzt schon über 28.000 Paramilitärs demobilisiert und in den nächsten Wochen sollen noch 3.000 dazukommen. Sie hatten noch nie so viele Kämpfer – nach eigenen Aussagen. Sie haben also so viele Leute wie möglich in den Demobilisierungsprozess eingeschleust, um über diese hohe Zahl eine gute Verhandlungsposition gegenüber der Regierung zu bekommen.“
Cardona erzählt weiter: „Ich habe mehrere Kritikpunkte an dieser Demobilisation. Erstens findet sie ohne die Beteiligung der FARC statt, also wird der Friedensprozess nicht komplett beendet werden können. Lass uns hoffen, dass wenigstens die ELN Friedensverhandlungen mit der Regierung aufnimmt. Entsprechende Gespräche laufen gerade in Kuba. Zweitens hat die kolumbianische Armee zu wenig Kapazität, um in den Gebieten, wo die Paramilitärs ihre Waffen niedergelegt haben, die Kontrolle zu übernehmen. Drittens wird der Friedensprozess misslingen, wenn nicht auch der Drogenhandel effektiv bekämpft wird. Der heutige Anti-Drogenkrieg, wie ihn die USA in unserem Land durchführen, ist komplett fehlgeschlagen.“

Zurück in Bogotá. Vor dem Eingang des Verteidigungsministeriums hängen sie herum, die jungen Männer, die aus irgendeiner der bewaffneten illegalen Gruppierungen ausgestiegen sind und sich jetzt für das Reintegrationsprojekt anmelden. Sie sind großteils dunkelhaarig, um die zwanzig, mit Baseballkappen am Kopf. Bis vor kurzem liefen sie noch mit einem AK-47, einem FAL- oder Galil-Gewehr herum; jetzt wollen sie wieder einfache Bürger werden.
„Insgesamt 9.360 Personen haben sich schon für das Reintegrationsprogramm angemeldet“, erzählt Marcela Durán von der Abteilung strategische Kommunikation des Ministeriums. „Fast die Hälfte von ihnen, 49 Prozent, kommen aus den Reihen der FARC. Etwa 34 Prozent kommen von den Autodefensas und etwa 14 Prozent vom ELN.“ Durán weiß, dass die meisten der Demobilisierungswilligen große Angst vor Repressalien seitens ihrer Gruppe haben. Diese Angst ist laut Durán aber nicht berechtigt. „Von den 9.360 Demobilisierten sind bisher nur zwölf aus Rache ermordet worden. Die Gruppen haben offenbar keine Kapazitäten mehr für Rache-Feldzüge.“
Das Ministerium versucht, über eine breit angelegte Informationskampagne die Guerilleros im Lande zur Aufgabe des Kampfes zu motivieren. Über Radiosendungen und Lautsprecherdurchsagen, teilweise sogar aus Hubschraubern über dem Dschungel, kommen die Aufrufe. Über den Kriegsgebieten werden Flugblätter abgeworfen. Mit einfachen Darstellungen wird erklärt, wie der Kämpfer sich beim nächsten Armee- oder Polizeiposten melden soll. Ein abgebildeter Stapel Banknoten macht deutlich, dass für gute Information auch gutes Geld geboten wird. Am meisten gibt es für Hinweise auf Verstecke, wo sich von den FARC entführte Personen – Politiker, Soldaten und Polizisten, u.a. schon seit über vier Jahren die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Ingrid Betancourt – aufhalten. Dafür werden 50 Millionen Pesos, etwa 20.000 Euro in Aussicht gestellt. Der Mindestlohn beträgt derzeit 408.000 Pesos im Monat.
Laut Durán ist das Programm der Reintegration einer der wichtigsten politischen Schwerpunkte der gegenwärtigen Regierung. Es wird mit fast siebzig Millionen Dollar pro Jahr unterstützt. „Trotz aller Kritik ist das Programm ein Erfolg. Die Ex-Guerilleros arbeiten wieder, sind wieder Teil der Gesellschaft.“ Die Kritik von Menschenrechtenorganisationen, dass es mit diesem Modell der Demobilisierung, wo schwerste Menschenrechtsverletzungen ungestraft und unaufgearbeitet bleiben, keine Gerechtigkeit und keine Versöhnung in Kolumbien geben kann, ist bei ihr fehl am Platz. „Wenn Kolumbien Frieden erreichen will, müssen wir einen Preis bezahlen. Jede Waffe, die abgegeben wird, ist eine weniger.“


Wissen:
FARC:
Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens), 1964 gegründet, größte und älteste Guerillabewegung Lateinamerikas. Manuel Marulanda alias Tirofijo, Gründer und seit mehr als 40 Jahren Oberkommandierender der FARC (im Bild aus dem Jahre 1964 rechts sitzend).
AUC: Autodefensas Unidas de Colombia (Vereinigte Selbstverteidigungsgruppen), Dachverband der paramilitärischen Einheiten Kolumbiens.
ELN: Ejercito de Liberación Nacional (Nationales Befreiungsheer), die zweite noch aktive Guerillabewegung in Kolumbien; befindet sich derzeit in Waffenstillstandsverhandlungen mit der Regierung.

Jeroen Kuiper lebt als freier Journalist in Venezuela und bereiste kürzlich Kolumbien.

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