Am Strand in der Nähe der am stärksten betroffenen Gebiete von Nagapattinam in Tamil Nadu zu stehen, genau sechs Monate nach dem Tsunami, hatte etwas Surreales an sich. Etwas Unheimliches, Düsteres hing in der Luft. Das Ausmaß der Katastrophe war noch immer zu sehen – zerschmetterte Boote, bis auf die Grundfesten zerstörte Häuser, Opfer in armseligen Notunterkünften. Aber die ungebrochene Lebenskraft der Fischergemeinschaft überraschte mich. Wir sahen dem komplizierten Feilschen zu, das nach dem Eintreffen der Boote begann. Kleine Kinder flitzten herum, bekamen den einen oder anderen Fisch. Am Rand des Geschehens saßen alte Frauen, die süßsaure Chutneys, Mangos, Keks und Süßigkeiten verkauften. Die Kinder kamen zu ihnen, um ihre Fische einzutauschen. Dabei ging es nicht um Geld. Sie sorgten dafür, dass die alten Frauen sich in Würde selbst erhalten konnten. Die Kinder mampften ihre Leckereien und gingen glücklich nach Hause. Die Mütter trugen Körbe voller Fische mit, die sie verkaufen konnten. Das Leben ging weiter.
Die Tsunami-Katastrophe führte zu einer einzigartigen Welle der Hilfsbereitschaft. Ob Erdbeben, Überschwemmungen oder Hungersnöte: Nichts davon in den letzten 30 Jahren war damit zu vergleichen. Das Geld einfacher Menschen floss in Strömen, zumeist über Bingos. Zusammen mit den lokalen NGOs spielten sie in den ersten paar Tagen eine entscheidende Rolle. Babu Matthew, Leiter von ActionAid Indien, bilanziert: „Die NGOs gaben den Dalits und Leuten Geld, die keine Fischer waren und die von der Regierung nichts bekamen. Sie stellten auch ein sehr großes Netz bereit, das für gute psycho-soziale Unterstützung sorgte. Save the Children beispielsweise leistete ausgezeichnete Arbeit mit Waisenkindern. Es gab eine gemeinsame Plattform von NGOs gegen den Versuch der Regierung, die ärmsten Fischergemeinschaften von ihren Stränden wegzuschaffen. Dieser breite Konsens zwang die Regierung, ihr geheimes Rundschreiben zurückzuziehen, in dem sie die Evakuierung der Küsten angeordnet hatte.“
Mit der Zeit wurde die Kritik aber immer lauter. Und zu Recht. Horden von ExpertInnen waren eingeflogen worden. Sie kamen rudelweise, fotografierten, verfassten Blitzbeurteilungen und flogen wieder ab. Sie hatten bald einen Namen: „KatastrophentouristInnen“. Ich selbst konnte ein europäisches Team beobachten, das sich für Interviews aufstellte und Aufnahmen machte, noch bevor die Leichen weggeschafft worden waren. Ihre Sorge galt dem Film, nichts anderem. Das Elend der Opfer existierte für sie nicht. Das war kein schöner Anblick. Die Frage, von der diese Katastrophenhilfe geplagt wird: „Bekommen die Menschen dieses Geld?“. Vanita, eine 19-Jährige mit strahlenden Augen, gibt die logische Antwort: „Wie können wir das wissen? Niemand sagt uns, wieviel Geld überhaupt geschickt wird!“
Was uns zum Kern des Problems bringt. Die Tsunami-Opfer wollen Information. Wieviel Geld haben die Opfer tatsächlich erhalten? Insider wissen, dass viele Bingos unsaubere Methoden haben, hohe Verwaltungskosten zu verstecken: Sie werden in Projekten untergebracht, und ahnungslosen Gemeinschaften werden verschwenderische Ausgaben zugeordnet. Ein Witz über einen Hilfsappell einer großen Bingo machte die Runde: Gib 500 Dollar aus, um ExpertInnen aus dem Norden einzufliegen, und lass sie in 30.000 Dollar teuren Landrovern mit 1.000-Dollar-Laptops und Mobiltelefonen herumfahren, um Ziegen für 30 Dollar das Stück zu verteilen. Leider scheint es nur wenige zu geben, die daran irgendeinen Anstoß nehmen.
Die Tsunami-Katastrophe hat eine Welle unnötigen, demonstrativen, geschmacklosen Geldausgebens ausgelöst. Schon von Anfang herrschte eine unheilige Hast, als erster vor Ort zu sein und eine Tafel oder ein Transparent mit dem Namen der „Marke“ anzubringen. Dann waren sie überall, versuchten sich gegenseitig beim Ausgeben ihrer Millionen zu übertreffen, schnappten sich die Mitarbeiter kleiner NGOs und trieben die Gehälter in astronomische Höhen.
Das wirkte sich katastrophal auf das unmittelbarste Bedürfnis aus – die Unterbringung. Die schrecklichen Notunterkünfte stehen noch immer da, ein Zeugnis für den verfehlten Gebrauch der Spendengelder. Die South Indian Federation of Fishermen Societies (SIFFS) zog es vor, traditionelle Kokospalmen-Häuser zu errichten. Sie lassen Luft herein und sind im drückend heißen Sommer kühl. Nur wenige Bingos folgten ihrem Rat.
Die Fischergemeinschaften verfügen über eine gut funktionierende Selbstverwaltung. Die Nutzung der natürlichen Ressource beruht auf komplexen Regeln, die eine gerechte Verteilung sicherstellen und Überfischung vermeiden sollen. Es besteht ein delikates Gleichgewicht zwischen der Zahl der Bootsbesitzer und der Zahl der Leute, die zu den Mannschaften gehören, zwischen der Zahl der traditionellen Holzkatamarane und jener der modernen Fiberglasboote mit Außenbordmotor. Manche Bingos beschlossen, diese Traditionen außer Acht zu lassen und Boote an jene zu verteilen, die sie für die Ärmsten hielten – die ohne Boote. Die Bingos – und, tatsächlich, auch lokale NGOs – hatten erstmals Kontakt mit dieser Gemeinschaft und meinten, sie wüssten es besser. Und weiter wurden verheerende Entscheidungen getroffen, in Chennai (Madras), Delhi, London, Genf, New York und Washington. Wieviel Schaden durch diese Narretei angerichtet wurde, wird erst die Zukunft zeigen.
Ravindran (Anm. d. Red.: Name geändert) hat seit den 1970er Jahren in indischen Dörfern gearbeitet. In der Sozial- und Entwicklungsarbeit ging es damals nicht um die Karriere, sondern um Gerechtigkeit, um das Recht von Gemeinschaften, stolz und in Würde zu leben. Im Gespräch wurde klar, wie stark er noch immer unter dem Geschehenen litt. „Bingos nehmen sich selbst überaus wichtig … Sie kommen her, beschäftigen Baufirmen, kaufen das Material. Das zeigt, dass sie der lokalen Bevölkerung nicht über den Weg trauen … Sie sagen, sie können das Geld nicht den Leuten selbst geben – sie würden es versaufen. Der selbe Typ, der Fischer als Säufer hinstellt, geht in sein Hotel und gibt das Dreifache für teure Whiskys aus. Aber seine Stellung erlaubt ihm, über andere zu urteilen. Sie hetzen herum und sammeln ‚Geschichten‘ über die tolle Arbeit, die ihre Bingo leistet. Markenpolitik ist Pflicht. Alle wollen beweisen, dass sie da waren, Fototermine bekommen, im Fernsehen sein. Daher sieht man ihre Namen, Logos, Transparente überall, vor den Häusern, auf ihren Jeeps …“
„Ein Typ kam aus Europa angeflogen. Er nahm sich ein Zimmer in einem Fünfsternhotel, um an einem eintägigen Treffen mit Regierungsvertretern über das weitere Vorgehen teilzunehmen. Es war mir peinlich, ihn von meinen Leuten abholen zu lassen. Sein Zimmer kostete mehr als ein Monatsgehalt eines Sozialarbeiters. Das erzeugt Zynismus in unseren lokalen Teams. Der Mehrwert dieser ‚ExpertInnen‘ ist höchst fragwürdig … Völlig ungeeignete Ausbildungsprogramme werden lokalen Projekten aufgepfropft. Das schafft Arbeit für die ExpertInnen. Sie sind herablassend und bevormundend. Wir dachten, wir hätten das in den 1970er Jahren geändert, aber es fängt von vorn wieder an … es ist ziemlich widerlich. Wenn ich mir rückblickend vor Augen führe, welche Rolle die Mehrheit der Bingos bei der Tsunami-Katastrophe gespielt hat, wird mir speiübel.“
Ein Hauptvorwurf war, dass die Bingos die Reife des NGO-Sektors in Indien, die Kapazität der Regierung und die Großzügigkeit der lokalen Bevölkerung nicht erkannten. Binnen zwei Tagen war eine erfahrene Gruppe, die zuvor in Gujarat, beim Wirbelsturm in Andhra Pradesh und in Bangladesch im Einsatz war, vor Ort in Nagapattinam und arbeitete mit der Regierung von Tamil Nadu zusammen. Ein außergewöhnliches BeamtInnenteam leistete bei der Leitung der Hilfsmaßnahmen in Nagapattinam hervorragende Arbeit und beschämte die NGOs. Vivek Harinarain hatte als Verantwortlicher für die Hilfsmaßnahmen der Regierung einen allgemeinen Überblick, der seinen Kommentaren einiges Gewicht verleiht. „Es war offensichtlich, dass ganze Horden von ihnen [Bingos] als Katastrophentouristen hierher kamen … Ich muss sagen, gegen Ende Jänner wurde mir bei den Zuständen in der NGO-Szene immer unbehaglicher zumute.“
Leider ging es uns allen so. Solange Bingos Spendengelder nicht auf ethische Weise verwenden – ungeachtet ihrer Rhetorik – werden sie als ebenso korrupt betrachtet werden wie die Westentaschendiktatoren mit ihren Schweizer Bankkonten, die wir alle so verachten. Wenn sie das nicht in den Griff bekommen, können sie genauso gut zusammenpacken und nach Hause fahren. Die Armen werden damit schon zurecht kommen. Das haben sie schon immer geschafft.
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