Über die Grenze und zurück

Von Jan Kreisky und Juan Antonio Sánchez · · 2005/06

Die Migration von Mexiko in die USA ist schon lange Realität. In den letzten beiden Jahrzehnten hat sie sich massiv verstärkt. Strenge Einwanderungsbestimmungen der USA, lange Mauern und Grenzzäune sind keine geeigneten Maßnahmen, sie zu verhindern. Die Folgen für das Herkunftsland Mexiko sind vielfältig.

Claudia Gómez lebt in Mexiko-Stadt. Sie kann die Entscheidung ihres Ehemannes zur Migration vor acht Monaten noch immer nicht verstehen. „Mit der Trennung hat sich unser Leben keineswegs verbessert“, klagt sie. Jetzt hätten sie für zwei Mieten aufzukommen und zwei Haushalte zu führen. So viel verdiene ihr Mann in einem Möbelgeschäft in Chicago auch nicht. Sie müsse jetzt – neben Versorgung und Erziehung ihrer vier kleinen Kinder – auch noch als Putzfrau arbeiten. Claudias Vater lebt seit 15 Jahren in den USA, ihre Mutter ist in Puebla zurückgeblieben. Auch ihre Onkel sind mittlerweile US-Staatsbürger. Die Mitglieder der Familie Gómez haben kaum noch Kontakt zueinander. In ländlichen Gegenden mit traditionell hoher Auswanderung gibt es oftmals keine Männer mehr. Die Rollenbilder verändern sich daher selbst in abgelegenen Dörfern. Die auf sich gestellten Frauen versorgen nicht nur ihre Familien, sondern haben zusätzlich auch einer Erwerbsarbeit nachzugehen.
Die Migrationsströme zwischen Mexiko und den USA sind in den letzten beiden Jahrzehnten massiv und vielfältig geworden. Schwarz-Weiß-Bilder negativer wie positiver Auswirkungen auf das Herkunftsland Mexiko können die soziale Realität kaum treffen.
Im Laufe der mehr als hundertjährigen Tradition von Auswanderung waren es typischerweise Männer mit geringer Schulbildung, die als Saisonarbeiter aus dem ländlichen Zentralmexiko auf kalifornischen oder texanischen Farmen anheuerten. Dieses klassische Muster von Migration hat sich längst verändert.

Laut Erhebungen des Demographie-Instituts Conapo verlor Mexiko 2004 etwa 398.000 EinwohnerInnen an die USA. Bereits 98 Prozent der AuslandsmexikanerInnen leben in den USA. Ein immer größerer Teil ist weiblichen Geschlechts, besser ausgebildet, stammt aus urbanen Milieus oder aus dem ländlichen Süden des Landes. Aufgrund der schärferen Einreisebestimmungen in die USA wird der lebhafte Grenzverkehr zwischen Mexiko und dem nördlichen Nachbarn zunehmend illegal. Die MigrantInnen bleiben länger in den USA und arbeiten vor allem im Dienstleistungssektor. Aber nicht nur wegen besserer Verdienstmöglichkeiten zieht es MexikanerInnen aus allen sozialen Schichten nach Norden. Oft wird auch nur das Abenteuer gesucht, das fremde Land kennen zu lernen. Frauen versuchen häufig, den beengenden familiären Verhältnissen zu entfliehen, oder sie wollen einfach wieder mit ihren Männern zusammenleben.
Dem Migrationsforscher Fernando Lozano von der mexikanischen Nationaluniversität erscheinen die Arbeitsbeziehungen zwischen den USA und Mexiko einigermaßen pervers: „Die USA sind abhängig von der billigen Arbeitskraft der illegalen Mexikaner und Mexiko braucht die ‚remesas‘ (Anm.: nach Hause geschicktes Geld) als Ventil für hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Löhne. Diese Missstände verbessern sich nicht, obwohl so viele Mexikaner weggehen.“
Die „remesas“ überstiegen laut Schätzungen der mexikanischen Nationalbank 2003 erstmals die Deviseneinnahmen Mexikos aus Auslandsdirektinvestitionen und Tourismus. Abgesehen von schmutzigem Geld aus dem Drogenhandel bringt nur noch Erdöl Mexiko mehr Dollars ein. 2004 wurde ein neuer Rekordwert erzielt: 16.612,8 Millionen US-Dollar. ExpertInnen streiten schon lange, ob diese immensen Summen für Mexiko überhaupt Entwicklungspotenzial beinhalten. Nur zehn Prozent werden für produktive Investitionen aufgewendet. Der Rest geht in privaten Konsumausgaben auf. „Für Gesundheit und Ausbildung ausgegebenes Geld wäre hingegen auch produktiv“, meint Lozano. Dennoch: Die „remesas“ sind für 1,4 Millionen mexikanische Haushalte unverzichtbar geworden.

Berta Lezama ging 1996 mit gefälschten Papieren nach San Diego. Aus finanziellen Gründen konnte sie ihr Medizin-Studium in Mexiko nicht fortsetzen. Daher wollte sie „jenseits der Grenze“ Geld für ihr Studium verdienen. Zwei Jahre jobbte sie als Kellnerin und konnte schließlich ihr Studium in Mexiko beenden. Vermehrt werden auch Fachkräfte aus Mexiko abgeworben, oder StudentInnen gehen mit Stipendien zur postgradualen Fortbildung in die USA und kommen nicht wieder zurück. Umgekehrt fällt aber Mexiko neben diesem „brain drain“ ein kleiner „brain gain“ zu: Fachkräfte eignen sich in den USA neues Wissen an, soferne sie nicht zum bloßen Tellerwaschen verdammt werden, und kehren später wieder nach Mexiko zurück.
Im Zuge der Finanzkrise Mexikos 1994/95 verschuldete sich auch das Familienunternehmen von Anselmo Reyes. Bis dahin lief alles gut für die Maschinenbau-Firma. Doch mit der dramatischen Abwertung des mexikanischen Peso gegenüber dem Dollar konnte auch das Kleinunternehmen sich die in den USA zugekauften Rohstoffe und Maschinen nicht länger leisten. „Wir mussten irgendwie die Schulden abbauen und neues Kapital aufbringen“, begründet Anselmo Reyes seine Entscheidung, 1998 ohne Papiere die Grenze nach den USA zu überqueren. Grenzschmuggler führten Reyes in langen Fußmärschen durch die „Wüste des Todes“ von Arizona. Im Laufe eines Jahres als Anstreicher in Los Angeles verdiente er genug, um das gefährdete Unternehmen seiner Familie zu retten.

Die 10 Millionen gebürtigen MexikanerInnen und jene 15 Millionen zweiter oder dritter Generation in den USA wollen natürlich mit ihren in Mexiko lebenden Verwandten und FreundInnen in Kontakt bleiben. Deshalb expandierte in den letzten Jahren der Telekommunikations-, Transport- und Finanztransfermarkt in dieser Nische ungemein. Reichtum entsteht also durchaus, doch profitiert davon vor allem der lateinamerikanische Telefonmulti Telmex des Mexikaners Carlos Slim, des viertreichsten Mannes der Welt.
Auch die Auswanderung Indigener aus dem Süden Mexikos hat sich wegen der Krise der kleinbäuerlichen Landwirtschaft fast verdoppelt. Die Aufenthalte der ArbeitsmigrantInnen in den USA werden zudem länger, weshalb sich dichtere Netze zu den Herkunftsgemeinden bilden. SozialwissenschaftlerInnen sprechen bereits von der Entstehung neuer transnationaler Gemeinschaften: Viele indigene Auswanderer sind aktive Mitglieder ihrer Herkunfts- wie auch ihrer Zuwanderungsgemeinden. So erhalten sie diese am Leben. Gleichzeitig verändern sich traditionelle indigene Gemeinschaften als Folge der Erfahrungen, die MigrantInnen einbringen. Haben früher Dörfer wegen weit zurückgehender Landkonflikte kaum ihre Gemeinsamkeiten wahrgenommen, stärkt sich nun durch die Erfahrungen der MigrantInnen in den USA die Solidarität unter den indigenen Gemeinschaften.
Ein Beispiel, wie pan-mixtekisches oder gar indigenes Bewusstsein entsteht, ist die Binationale Oaxakensische Indigene Front (FIOB) des südlichen Bundesstaates Oaxaca, die seit kurzem auch mit einer Organisation der Purépecha-Ethnie des weiter nördlichen Bundesstaates Michoacán kooperiert. Doch inwieweit die Mitgliedschaft über große Entfernung auch negative Auswirkungen (zum Beispiel Verlust der eigenen Sprache in der zweiten Generation) auf die Identität indigener Gemeinschaften haben könnte, ist noch nicht absehbar.

Jan Kreisky hält sich derzeit zu Studienzwecken in Mexiko-Stadt auf. Juan Antonio Sánchez ist Schriftsteller in Mexiko-Stadt. Seine Hauptthemen sind Drogenhandel und Gewalt.

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