Der Preis der Vision

Von Robert Poth · · 2005/01

Hohes Wachstum wird es dem Süden ermöglichen, den Großteil der Kosten für die Umsetzung der Millenniumsziele „aus der Portokassa“ zu bezahlen – der reiche Norden wird sich verschulden müssen, so nimmt das UN-Millenniumprojekt an.

Was könnte die Umsetzung der Millenniumsziele insgesamt kosten – und wen? Gute Frage. Der im Jänner 2005 veröffentlichte Bericht des „UN Millennium Project“ beantwortet diese Frage allerdings nicht direkt. Über den Grund darf spekuliert werden – um reine Nachlässigkeit kann es sich wohl nicht handeln. Die impliziten Kosten lassen sich jedoch abschätzen – auf Basis der Annahmen des Plans und seiner Finanzierung über eine International Finance Facility (IFF) nach dem Vorschlag des britischen Finanzministers Gordon Brown.
Zuerst jedoch zur Frage, wie die Gesamtkosten überhaupt kalkuliert wurden. Ausgehend von fünf detaillierten Länderstudien (Bangladesch, Ghana, Kambodscha, Tansania, Uganda) wurden Bedarfs- und Kostenschätzungen für die Umsetzung der einzelnen Ziele erstellt, anhand vergleichbarer Studien abgesichert und auf sämtliche Länder unter Berücksichtigung der lokalen Kosten (Preisniveau), Bedürfnisse sowie ihrer angenommenen Entwicklung hochgerechnet. Als Nächstes wurde abgeschätzt: a) welchen Teil dieser Kosten die Regierungen im Süden tragen können und b) welcher Teil der bisher geleisteten offiziellen Entwicklungshilfe bereits als Beitrag zur Realisierung der Millenniumsziele angerechnet werden kann. Aus der Differenz dieser Beträge ergibt sich eine Finanzierungslücke, die durch zusätzliche Mittel aus den reichen Ländern gedeckt werden muss.

Bei dieser Lücke handelt es sich also um einen Restbetrag, dessen absolute Höhe weitgehend von den Annahmen über die Finanzkraft der Entwicklungsländer bestimmt wird. Diese wird in erster Linie vom jeweiligen Wirtschaftswachstum abhängen. Auch dafür mussten daher Annahmen gemacht werden. Die Tabelle zeigt die vom Millenniumsprojekt angenommenen Pro-Kopf-Wachstumsraten von 2006 bis 2015. Vorausgesetzt wurde, dass die erforderlichen Mittel plangemäß bereitgestellt und eingesetzt werden. Die Wachstumsraten der Gesamtwirtschaft stammen übrigens nicht aus dem Bericht, sondern ergeben sich auf Basis der Pro-Kopf-Raten und der jüngsten Bevölkerungsprognose der UNO (mittlere Variante, Revision 2004).
Diese Wachstumsraten wurden auf ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2006 (Projektbeginn) angewendet, das anhand der durchschnittlichen regionalen Wachstumsraten in der Periode 1997-2002 ermittelt wurde. Auf dieser – theoretischen – Grundlage wurde dann die Finanzierungskraft der Regierungen im Süden abgeschätzt.

Als tragende Pfeiler des gesamten UN-Millenniumprojekts können die zwei folgenden Annahmen gelten: 1. Die Regierungen im Süden können ihre Ausgaben für die Millenniumsziele von 2006 bis 2015 schrittweise um bis zu 4% des BIP erhöhen. 2. Diese Erhöhung gelingt ohne Aufnahme irgendwelcher Schulden auf Basis von Mehrwertsteuern, einer verbesserten Steuereintreibung und Umschichtungen im Budget. Flankierende Maßnahmen wie ein weiterer Schuldenerlass oder ein Teilverzicht auf die Rückzahlung „weicher“ Kredite sind zwar ebenfalls vorgesehen; diese Kosten gehören aber zu den „Restkosten“, die vom Norden zu tragen sind. Im Gegensatz dazu sollen die von den reichen Ländern bereitgestellten zusätzlichen Mittel zur Gänze über die Emission von Anleihen am internationalen Kapitalmarkt finanziert werden – dazu weiter unten.
Nun wurden die so geschätzten Eigenleistungen der Entwicklungsländer von den (nicht bezifferten) Gesamtkosten abgezogen und die zusätzlichen Mittel errechnet, die vom Norden bereitzustellen sind. Diese Mittel werden im Bericht lediglich für einzelne Jahre angegeben, und zwar einerseits als Differenz zu den auf die Umsetzung der Millenniumsziele anrechenbaren Entwicklungshilfeleistungen von 2002 („Lücke 1“), andererseits als Differenz zu den bereits zugesagten Erhöhungen dieser Leistungen („Lücke 2“). Letztere Zusagen liegen jedoch großteils nicht in absoluten Beträgen vor, sondern als Prozentsatz des Wirtschaftsprodukts. Insofern hängt die Größe der Lücke 2 vom Wirtschaftswachstum ab. Im Bericht wird etwa angenommen, dass das Bruttonationaleinkommen (BNE) der OECD-Länder real (inflationsbereinigt) um 2% pro Kopf und Jahr von 28.000 Mrd. US-Dollar im Jahr 2003 auf 36.000 Mrd. Dollar im Jahr 2015 anwächst.

Ein klareres Bild ergibt sich daher, wenn von der „Lücke 1“ ausgegangen wird: Die Differenz zum Status quo (2002) entspricht eher dem tatsächlich erforderlichen zusätzlichen Beitrag des Nordens. (Die Beträge der Lücke 2 werden im Folgenden in Klammer angegeben.) Diese Lücke 1 wird laut Millenniumsprojekt im Jahr 2006 70 Mrd. Dollar (48 Mrd.), im Jahr 2010 87 Mrd. Dollar (50 Mrd.) und im Jahr 2015 130 Mrd. Dollar (74 Mrd.) betragen. Alle Beträge lauten auf US-Dollar von 2003, was bedeutet, dass die tatsächlich erforderlichen Beträge um die bis dahin akkumulierte Inflation höher liegen werden.
Was die Realisierung der Millenniumsziele insgesamt kostet und wie viel davon die armen Länder zahlen müssten, bleibt zwar weiter im Dunkeln. Aber es liegen nun fast alle Informationen vor, um sich selbst ein Bild zu machen. Drei zusätzliche Annahmen sind noch nötig: 1. Die „Lücke 1“ steigt jeweils linear von 70 Mrd. (2006) auf 87 Mrd. (2010) und auf 130 Mrd. (2015) 2. Die Entwicklungsländer erhöhen ihre Mittel für die Umsetzung der Millenniumsziele ab 2006 ebenfalls linear (also in Schritten von 0,4% des BIP/Jahr) um insgesamt 4% des BIP. 3. Die reichen Länder finanzieren die zusätzlichen Mittel wie im britischen IFF-Vorschlag vorgesehen durch die Emission endfälliger Anleihen mit einer Laufzeit von 15 Jahren zu – dem optimalen Rating der Weltbank entsprechenden – Realzinsen von 5% pro Jahr. („Endfällig“ = die Anleihe wird erst bei Ende der Laufzeit zurückgezahlt.)

Was dabei herauskommt, zeigt die Kreisgrafik. Die Umsetzung der Millenniumsziele nach dem Plan des UN-Millenniumprojekts könnte insgesamt rund 4.100 Mrd. Dollar (von 2003) kosten; davon würden die Entwicklungsländer mit mehr als 2.400 Mrd. Dollar den Löwenanteil bezahlen. Die von den reichen Ländern bereitgestellten effektiven Mittel beliefen sich auf rund 950 Mrd. Dollar, sie hätten darüber hinaus aber noch Zinskosten von mehr als 700 Mrd. Dollar zu tragen. Wie und von wem diese Mittel über die Zeit aufgebracht würden, lässt sich den beiden anderen Grafiken entnehmen. Die Zinszahlungen der reichen Länder würden großteils erst nach 2015 anfallen.
Wer den Eindruck hat, dieser Finanzierungsplan sei bloß ein riesiges Kartenhaus, liegt so falsch nicht: Jede Annahme bedingt die andere; erweist sich nur eine einzige als falsch, fällt alles in sich zusammen. Nur wenn die zusätzlichen Mittel rechtzeitig eingesetzt werden, können die angenommenen Wachstumsraten erreicht und die Eigenleistungen finanziert werden. Steigen die Wachstumsraten aber langsamer als erwartet, scheitert der Plan ebenso. Alles müsste wie ein riesiges Puzzle zusammenpassen und eintreffen, inklusive der (ungezählten) weiteren, dem Bericht zugrunde liegenden Annahmen über internationale Rahmenbedingungen oder die Auswirkungen von Liberalisierung und Investitionen, die nur allzu oft auf Basis perfekter Märkte bewertet werden. Die gibt es jedoch nur im Lehrbuch.

Eine nähere Betrachtung verdient jedenfalls die Annahme, Regierungen armer Länder könnten ihre Ausgaben für die Millenniumsziele ohne Schuldenaufnahme jährlich um 0,4% des BIP erhöhen – während den unter „budgetären Zwängen“ leidenden Regierungen reicher Länder zugestanden wird, Ähnliches nur per Verschuldung auf den internationalen Kapitalmärkten bewerkstelligen zu können. Letzteres wird im britischen IFF-Vorschlag nicht zu Unrecht mit den über den Zinskosten liegenden Renditen öffentlicher Investitionen in Entwicklungsländern gerechtfertigt, die mit durchschnittlich 8% angenommen werden.
Das liefert einen Anhaltspunkt: Regierungen im Süden haben angesichts ihrer weit niedrigeren Bonität kaum Chancen, internationale Anleihen mit weniger als 8% Realzinsen zu platzieren – und Zinsen von 8% würden ihre Kosten um rund 2.900 Mrd. Dollar mehr als verdoppeln. Insofern wäre es ohnehin sinnlos, würden sie sich für die Millenniumsziele verschulden – oder überhaupt Schulden aufnehmen. Eine Vermutung wäre daher, dass hier die Not zur Tugend gemacht wird: Wer nicht zu vernünftigen Konditionen Kredit bekommt, braucht auch keinen – oder darf einfach keinen brauchen. Praktisch. Ob’s funktioniert, werden wir sehen.


Quellen zu den Grafiken:
UN Millennium Project; World Population Prospects (2004 Revision) ; World Bank/IWF;
HM Treasury 2004 (IFF); eigene Berechnungen.
Aktuelle Zahlen 2012: http://www.learnstuff.com/world-population-resources/ (Dank an Erin Williams für den Hinweis!)

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