Die Zäune niederreißen

Von Sue Branford · · 2003/03

Nirgendwo auf der Welt konzentriert sich der Grundbesitz in so wenigen Händen wie in Brasilien. Aber nun nehmen die Landlosen die Angelegenheit in ihre Hand, berichtet New Internationalist-Autorin Sue Branford.

Gegen Mittag tauchten einige Jeeps auf der Straße auf, nahe dem provisorischen Lager gegenüber einer verlassenen Kirche. Im Morgengrauen hatte ich drei dutzend landlosen BäuerInnen geholfen, das Land zu besetzen und behelfsmäßige Hütten mit Zweigen und schwarzen Plastikplanen zu errichten. Etwa 30 Männer, alle bewaffnet, stiegen aus den Jeeps und marschierten langsam nebeneinander Richtung Lager. Bei ihrem Anblick ergriffen die Landlosen ihre Hacken, versperrten den Weg und riefen Parolen, die sie gerade erst gelernt hatten. Eine davon lautete: „Ocupar! Resistir! Producer!“
Ich war zu Tode erschrocken und erwartete eine der nicht seltenen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Aber diesmal zeigten die Bewaffneten nur drohend auf ihre Gewehre und warnten die Familien davor, das Zuckerrohr in den benachbarten Feldern umzuschneiden; dann machten sie kehrt und marschierten davon. Mit Jubelrufen und Freudensschreien feierten die BesetzerInnen ihren Sieg.
Zwei Wochen zuvor hatten die meisten von ihnen kaum etwas über die Organisation gewusst, die die Besetzung geplant hatte – die Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra). Aber MST-AktivistInnen waren eben erst in die Region gekommen. Ich hatte sie begleitet, auf dem Rücksitz eines Motorrads, als sie im verarmten Hinterland von Pernambuco im Nordosten Brasiliens herumfuhren. Gerade hatte die Zuckerrohrernte begonnen. Während wir die holprigen Straßen zwischen den Dörfern entlangfuhren, beobachtete ich die LandarbeiterInnen, wie sie die Zuckerrohrfelder in Brand steckten, um Blätter und Gestrüpp abzubrennen, und dann mit Macheten die dicken, verkohlten Halme umhackten, die den Saft enthalten. Am Abend kamen Männer, Frauen und Kinder schwarz vom Ruß aus den Feldern. Nicht selten verletzen sich die SchneiderInnen selbst oder werden von Schlangen gebissen. Diese Szenerie hat sich in den vergangenen 400 Jahren kaum verändert.

Wenn wir in die Dörfer kamen, war aber nicht die Ernte, sondern die wachsende Arbeitslosigkeit das Thema. Früher waren die ArbeiterInnen von den Plantagenbesitzern schlecht bezahlt und oft brutal behandelt worden, aber sie hatten ihr eigenes Stück Land, die „Sitios“, wo sie ihre eigenen Nahrungsmittel anbauten. Sie waren bitterarm, aber wohlgenährt. Heute steckt die Region in einer Krise. Viele der Zuckerrohrpflanzer gingen bankrott, weil sie nicht mit den mechanisierten Zuckerrohrplantagen im Süden konkurrieren konnten. Die verbleibenden Plantagenbesitzer nahmen den ArbeiterInnen die Sitios weg, um die Anbauflächen zu vergrößern. Es gibt heute echten Hunger in den heißen, staubigen Lehmhüttendörfern.
Einer der MST-AktivistInnen, Cícero Onório Alves, ist ein begnadeter Redner. „Ich war einmal ein sem-terra, ein landloser Bauer, genau wie ihr“, erzählte er einer Gruppe von rund 30 Leuten, darunter auch Frauen mit Babys, die im Dorf Alto do Ceu zusammen gekommen waren, um ihn zu hören. „Aber wir besetzten eine Plantage. Wir wurden vier oder fünfmal vertrieben, gewaltsam, von bewaffneten Männern. Aber wir besetzten sie wieder und am Ende gewannen wir. Heute bauen wir Reis, Bohnen, Maniok, Kürbis, Maracuja und andere Pflanzen an. Der Zug der Landreform kommt diese Woche in euer Dorf. Er wird nur einmal kommen. Wenn ihr ihn versäumt, dann stehlt ihr euren Kindern eine Zukunft, ein Leben, in dem ihr Menschen sein könnt anstatt Sklaven.“
Cíceros rhetorische Begabung fesselte die Leute. Er bot ihnen nicht nur ein Ende des Hungers an, sondern eine neue Welt, die Chance, ein neues Leben zu beginnen. Mit dieser Botschaft der Hoffnung konnte die MST – sie war vor 20 Jahren im Süden Brasiliens gegründet worden, nachdem Hunderttausende KleinbäuerInnen ihr Land wegen der Mechanisierung der Landwirtschaft verloren hatten – bisher rund eine Million Mitglieder rekrutieren. Sie baute etwa 1.000 Siedlungen auf, wo heute rund 100.000 Familien leben. MST-Mitglieder erzählen stolz, dass sie keinen einzigen Hektar Land ohne vorhergehende Landbesetzung gewonnen haben. „Die Regierung hat uns das Land nicht geschenkt“, sagt Jaime Amorim, MST-Sprecher in Pernambuco. „Wir mussten die Regierung mit dauerndem Druck und Mobilisierungen zwingen, Land zu enteignen. Doch wir brauchen weit mehr Landreform. In Brasilien gibt es mindestens vier Millionen landlose Familien.“

Im Süden, wo die MST entstanden war, befinden sich auch die ältesten Siedlungen der Bewegung. Also machte ich mich auf die lange Reise vom heißen, trockenen Pernambuco in das gemäßigte Klima des südlichsten Teilstaats Brasiliens, Rio Grande do Sul, um zu erfahren, was Familien mit dem einmal errungenen Land erreichen können.
COANOL ist eine der größten MST-Kooperativen. Sie feiert gerade den 14. Geburtstag ihrer Siedlung, die sie nach einem langen und schwierigen Landrechtskampf gegründet hatten. Heute sind die Mitglieder relativ wohlhabend. Aber sie begingen auch einige schwere Fehler. „Als wir uns das Land gesichert hatten, äfften wir die Großbauern nach“, erzählt Claudemir Modellin, der junge Agronom der Kooperative, der als Achtjähriger mit seinem Vater an der Landbesetzung teilnahm. „Wir reproduzierten ihr System. Wir wollten die modernsten Hybridsaaten. Wir verwendeten am meisten Kalk, am meisten Dünger. Wir wollten die größten Maschinen und die besten Ernten.“
Es funktionierte nicht. „Die Familien erkannten, dass sie die Böden auslaugten und immer mehr für Düngemittel und Pestizide ausgaben. Schließlich gingen dafür 60 bis 70 Prozent ihrer Einnahmen drauf. Das war einfach sinnlos.“ Es war wirtschaftlicher Druck, der die Menschen dazu brachte, den biologischen Anbau ins Auge zu fassen. Und nachdem sie damit begonnen hatten, stellten sie fest, dass es ihnen so besser gefiel. Heute bauen viele Familien ihre eigenen Nahrungsmittel an und verkaufen kleine Überschüsse am Markt.

Trotz der enormen Erfolge der MST steht die Bewegung vor gewaltigen Problemen. Die brasilianische Landwirtschaft hat in den letzten Jahren einen raschen Modernisierungsprozess durchgemacht, der von einer Ausweitung intensiv bewirtschafteter Monokulturen begleitet war. KleinbäuerInnen können in einem derartigen Umfeld nur schwer überleben. Während die MST mit ihren Besetzungen in einigen Gebieten Brasiliens Land gewinnt, verlieren Hunderttausende andere Bauernfamilien in anderen Gebieten ihr Land an Großbauern.
Die Situation könnte sich ändern. Der Kandidat der Arbeiterpartei PT, Luis Inácio Lula da Silva, gewann die Präsidentschaftswahlen im Oktober und trat sein Amt am 1. Jänner an. Die PT steht der MST viel wohlwollender gegenüber als frühere Regierungen, kann es aber nicht risikieren, die Großbauern gegen sich aufzubringen. Brasilien muss weiterhin große Mengen an Soja und andere exportierbare Feldfrüchte ausführen, um Devisen zur Bedienung der hohen Auslandsschulden des Landes zu verdienen. Wenn die Landreform beschleunigt werden soll, wird die MST wohl weiter ihre Besetzungen organisieren müssen.

copyright New Internationalist

Sue Branford schreibt seit vielen Jahren zum Thema Brasilien und LandarbeiterInnen. Ihre letzte, zusammen mit Jan Rocha verfasste Publikation ist „Cutting the Wire – The Story of the Landless Movement in Brazil“, Latin America Bureau, London 2002.

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