Aus dem Auge, aus dem Sinn

Von Redaktion · · 2002/09

Erich Hackls Monats-Kulumne

Kinder, die nicht entdeckt werden wollen, schlagen die Hände vors Gesicht. Sie glauben noch an die Umkehrbarkeit der Wahrnehmung: Was sie nicht sehen, bleibt auch anderen verborgen. An Erwachsenen wirkt derlei Verhalten lächerlich, aber das heißt nicht, dass sie davor gefeit sind, es zu imitieren. Vor allem die Herrschenden und ihre Verwalter erliegen der Versuchung, das, was sie für unansehlich halten, zu verdecken. Ich erinnere mich an einen Betonwall in Santa Fe, den die argentinische Militärjunta 1978 hochziehen ließ, sodass Journalisten und Schlachtenbummler bei der Fußballweltmeisterschaft die Elendssiedlung dahinter nicht zu Gesicht bekamen. In Russland werden bis heute potemkische Dörfer errichtet. Und hierzulande?

Das Männerheim der Gemeinde Wien in der Meldemannstraße wird aufgelassen. Es sei zu klein, heißt es, abgewohnt und unhygienisch. Berüchtigt wegen eines seiner früheren Bewohner, des Postkartenmalers Adolf Hitler, wird das Heim in der Brigittenau nach Floridsdorf übersiedeln, hin zum Stadtrand, in ein großes neues Gebäude. Man könnte es natürlich auch renovieren und weiterführen. Aber ringsherum sind Bürohäuser im Entstehen, das Viertel verändert seinen Charakter, erhält Glas und Beton, Glanz und Chic, Prosecco und Power. Da passen gescheiterte Existenzen nicht ins Bild. Sollen die doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, nämlich in der Siemensstraße. Dorthin verirren sich keine Touristen. Die Anrainer sind kleine Leute. Ihre künftigen Nachbarn sind die lebenden Spiegel, die man ihnen vorhält: Wenn ihr nicht pariert, geht’s euch genauso.
Geplant sind auch zwei Bürotürme über dem Bahnhof Wien-Mitte. Das jetzige Bahnhofsgebäude ist grau, schäbig, schmutzig. Es besitzt, schreibt der „Falter“, Ostblockcharme. Etwas Neues muss her, das dem urbanen Lebensgefühl des neuen Mittelstands seine Weihe verleiht, oben in den Büros werkeln die Konkursmacher, unten wird flaniert und gekauft. Und ganz nebenbei, ohne Polizeigewalt, wird man die Stadtstreicher los, die sich die Ecken und Winkeln zunutze gemacht haben. Der Anblick der Sandler und Süchtigen stört, auch in Wien, das bekanntlich anders ist: Krähwinkel, halb Krefeld, halb Cleveland.

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