Zwei Drittel der Flüchtlinge der Welt sind Frauen und Kinder. Eine Äthiopierin schildert ihre Geschichte und ihre Erfahrungen als Asylsuchende in Österreich.
Monika Kalcsics
Ich habe es noch nicht geschafft, zu träumen. Solange ich nicht Asyl habe und die Verfahren nicht abgeschlossen sind, solange ich all das, was mir passiert ist, nicht vergessen kann, kann ich nicht träumen.“ Wien, Anfang Juni. Frau M. sitzt am Sofa im Wohnzimmer ihrer Schwägerin. Sie ist Äthiopierin, 19 Jahre alt. Frau M. gehört zur politisch verfolgten Ethnie der Oromo. Zwei Geschwister sind verschwunden, ein Bruder ist tot, ein anderer Bruder bekam 1989 in Österreich Asyl. Die Mutter wurde verhaftet, Frau M. vergewaltigt. Am 2. Juni 2000 flüchtete sie aus ihrer Heimat. Eine Freundin ihrer Mutter gab ihr 6.000 US-Dollar, damit sie die Schlepper bezahlen konnte. Die Flucht dauerte zwei Monate.
50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, schätzt das Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR). Frauen sind auf der Flucht gefährdeter als Männer, sagt Karola Paul, Leiterin des UNHCR-Regionalbüros Wien. Frauenspezifische Fluchtgründe wie sexuelle Gewalt oder weibliche Genitalverstümmelung werden im österreichischen Asylverfahren nicht genügend berücksichtigt, kritisiert sie.
Ende Juli 2000 gelangte Frau M. nach Traiskirchen in Niederösterreich und stellte einen Antrag auf Asyl beim dortigen Bundesasylamt. Beim Erstinterview im Bundesasylamt in Traiskirchen, auf das sie sechs Monate gewartet hatte, war Frau M. hochschwanger, bereits im 8. Monat. Schwanger von der Vergewaltigung in Äthiopien. „Ich wurde von dem Mann vergewaltigt, der meine Mutter verhaftet hatte“, erzählt Frau M. In der Gegenwart des männlichen Dolmetschers fühlte sich Frau M. befangen.
Das UNHCR veröffentlichte im vergangenen Mai neue Richtlinien als Hilfsmittel zur Rechtsauslegung frauenspezifischer Verfolgung auch in Verfahrensfragen. Bei Anhaltspunkten für frauenspezifische Fluchtgründe müssen Frauen als Interviewer und Dolmetscher eingesetzt werden.
Das Asylgesuch von Frau M. wurde im April 2001 in erster Instanz abgelehnt. Begründung: nicht glaubwürdige Darstellung. Die Zugehörigkeit zu den Oromo allein sei kein Asylgrund.
Frau M. wandte sich an die Flüchtlingsberatung von amnesty international (ai). Anne Bernert von ai riet Frau M. zu einer Berufung in zweiter Instanz beim Unabhängigen Bundesasylsenat (UBAS) in Wien. Die Berufung war jedoch nicht möglich, da die Berufungsfrist abgelaufen war. Im Kompetenzzentrum des Jugendamtes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das zu der damaligen Zeit für Frau M. zuständig war, heißt es dazu, dass man Frau M. rechtzeitig zu einem Gespräch eingeladen, diese darauf jedoch nicht reagiert hätte. Eine Einladung zu einem Gespräch habe sie nie bekommen, sagt Frau M. Die Einladung ging offenbar auf dem normalen Postweg verloren.
Aufgrund der Aktenlage, heißt es im Jugendamt, sei es nicht möglich gewesen, eigenständig über eine Berufungsmöglichkeit zu entscheiden, da sexuelle Nötigung allein keinen Berufungsgrund entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) darstelle. Die GFK bildet die Grundlage des österreichischen Asylgesetzes. Darin wird als Flüchtling anerkannt, wer aufgrund seiner „Rasse, Religion, Nation und Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen politischer Überzeugung“ verfolgt wird. „Unserer Meinung nach umfasst die GFK ohne große Klimmzüge zu machen, frauenspezifische Verfolgungsgründe“, sagt Karola Paul vom UNHCR.
Laut einem Informationsbericht zu weiblicher Genitalverstümmelung von ai sind 90 Prozent aller Frauen in Äthiopien davon betroffen. Bei den Oromo wird jede Frau vor der Heirat beschnitten. Frau M. war damals 14 Jahre alt. Mit Hilfe von ai beantragte Frau M. Asyl für ihr Kind wegen drohender Genitalverstümmelung. In erster Instanz wurde das Asylgesuch abgelehnt. Begründung: Das Baby entspricht nicht einem Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention. ai legte in zweiter Instanz Berufung ein. Mitte Juni erfuhr Frau M., dass ihre 15 Monate alte Tochter Asyl in Österreich erhalten hat.
ai beantragte daraufhin Asylerstreckung auf Frau M. wegen des positiven Asylbescheids für deren Tochter. Am 8. Juli wurde der Antrag angenommen. „Ich versuche weiterzuleben“, sagt Frau M. „Ich weiß nicht, wie schnell ich vergessen kann, aber ich versuche es.“
Die Autorin ist Politologin und Hörfunkjournalistin (Ö1). Sie lebt in Wien.