Die „Documenta“ in Kassel ist die weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Nummer 11, die soeben eröffnet wurde, legt unter ihrem nigerianischen Kurator Okwui Enwezor das Schwergewicht auf „engagierte“ Kunst – Kunst als Beitrag zur Analyse und Beseitigung gesellschaftlicher Missstände.
Mit diesem theoretischen Vorlauf war auch schon angedeutet, dass die documenta 11 eine der politischsten in ihrer Geschichte werden wird. Es wäre naiv anzunehmen, erklärt Okwui Enwezor dazu, dass Kunst von Politik und Gesellschaft zu trennen sei – gleich, ob es sich nun um europäische oder etwa afrikanische Kunst handle. Und so legt er ein Schwergewicht auf „engagierte“ Kunst – Kunst, die gesellschaftliche Zusammenhänge analysiert, Missstände und Widersprüche aufzeigen und einen Beitrag zu ihrer Bekämpfung leisten will.
Wie etwa die Arbeiten der indischen Künstlerin Vivat Sundaram: Für die ebenfalls von Enwezor kuratierte Biennale in Johannesburg 1997 druckte sie Texte bekannter indischer Ökonomen auf dünne Metallfolien, heftete diese zu Büchern zusammen und hängte sie an Wände, während der Boden des Raums von kleinen Fotos übersät war, die – alle in den selben billigen kleinen roten Plastikrahmen – indische Marktsituationen zeigten. Ähnlich politisch gehalten sind auch die Installationen der Kubanerin Tania Bruguera etwa zum Krieg in Angola, der Libanesin Mona Hatoum mit ihren Sichten auf den Nahost-Konflikt oder die soziologisch grundierten Foto- und Videoarbeiten der Iranerin Shirin Neshat, die einen Begriff von der Gemeinsamkeit zwischen Patriarchat und Kolonialismus vermitteln. Alle drei sind sie in Kassel dabei.
Insbesondere hat sich Okwui Enwezor in seinem politischen Engagement als Kurator die Förderung postkolonialer Kunst auf die Fahnen geschrieben. „Irritierend“, sagt er, „soll der Blick von nicht-westlichen Kulturschaffenden auf eine Moderne wirken, auf die der Westen bis heute nicht nur politisch und ökonomisch, sondern auch in der Welt der Kunst unerschüttert einen Alleinvertretungsanspruch erhebt. Dies dokumentiert nicht zuletzt die Geschichte der documenta, denn seit der ersten documenta 1955, als die Nachkriegsepoche im Mittelpunkt stand, ist diese Großpräsentation moderner Kunst strikt eurozentristisch geprägt. Erst 1992 waren so zum ersten Mal Arbeiten von zwei afrikanischen Künstlern zu sehen. Mehr noch: In den Zeiten des Kalten Krieges spielten auch die Arbeiten von KünstlerInnen aus dem Ostblock kaum eine Rolle.
Perspektiven aus den als „unterentwickelt“ oder „zurückgeblieben“ geltenden ehemaligen Kolonialgebieten blieben bis in die 90er Jahre per definitionem aus dem Kanon der Moderne ausgeklammert. Ihre künstlerischen Produktionen wurden unter Etiketten wie Kunsthandwerk, primitive Kunst, Folklore oder Kultobjekt verbucht. Bestenfalls dienten sie der europäischen Avantgarde als Ideenpool für eine Weiterentwicklung ihrer Formsprachen. Beispielhaft dafür sind etwa die Einflüsse afrikanischer und asiatischer Kunst auf die Werke von Picasso oder van Gogh. Bis heute soll vor diesem Hintergrund insbesondere afrikanische Kunst meist möglichst „authentisch“ sein: „Viele Europäer“, so der aus Nigeria stammende und in Deutschland lebende Künstler Emeka Udemba, „erwarten von der Ausstellung eines Künstlers aus Afrika immer noch fröhliche Farben. Wenn dann jemand mit schwarz oder dunklen Farben arbeitet, ist die Enttäuschung groß“.
Enttäuscht werden auch BesucherInnen der documenta 11 sein, die sich in Kassel den bunten Charme der Multikultur erhoffen. Dies, obwohl mehr als die Hälfte der von Enwezor und seinen Co-Kuratoren nach Kassel geladenen 118 Künstler, Künstlerinnen und Künstlerkollektive aus dem Süden kommt oder von MigrantInnen abstammt – zweifellos eine Revolution in der Geschichte der Documenta. Okwui Enwezor hat damit ganz anderes im Sinn. Er wehrt sich vor allem gegen eine Haltung, „die den kreativen Output von Tausenden von Männern und Frauen so genannter nicht-europäischer Herkunft für die Entstehungsmomente der Kunst dieses Jahrhunderts ausschließt“. Noch immer, sagt er, sei nicht hinlänglich anerkannt, dass die großen historischen Momente der Moderne insgesamt neu geschrieben werden müssen.
Wissenschaftlich fußt dieses Projekt des Kasseler Kurators auf den Konzepten der Cultural und Postcolonial Studies, die, ausgehend von englischen und US-amerikanischen Universitäten, in den vergangenen Jahren einen Siegeszug durch die akademische Welt angetreten haben. Ihr Ziel ist es, mittels bisher weitgehend ignorierter Sichtweisen des kolonialen und postkolonialen Südens die Hegemonie der westlichen Geschichtsschreibung sowie die in dieser wieder und wieder reproduzierten Herrschaftsverhältnisse infrage zu stellen und Gegenerzählungen zu entwickeln.
Für die in Kassel ausgestellte künstlerische Produktion bedeutet dies unter anderem, dass weniger Malereien als vielmehr Foto- und Videoarbeiten zu sehen sind. Weisen diese doch häufig einen dokumentarischen Charakter auf und machen explizit die Geschichte – etwa des afrikanischen Kontinents – zu ihrem Thema. Außerdem spielt bei ihnen der gesellschaftliche Kontext, in dem die Aufnahmen entstanden sind, eine eigene und für den Betrachter direkt spürbare Rolle. So kritisiert zum Beispiel der Videokünstler Walid Raad in einer Arbeit über den libanesischen Bürgerkrieg die selektive Art und Weise, in der Bilder aus dem Nahen Osten im Westen in Umlauf gebracht werden.
In Formsprache und Themenwahl beispielhaft für das von Enwezor protegierte postkoloniale Genre ist sicherlich Yinka Shonibare. An den mittlerweile auf vielen Ausstellungen gezeigten Arbeiten Shonibares gefällt Enwezor neben ihrer „schieren Eleganz“ vor allem, dass sie auf „scharfem Intellekt und ernsthaften Forschungen“ beruhen. Ein 1997 entstandenes Werk des Briten zeigt, eingefasst im repräsentativen Bilderrahmen, die Seitenansicht eines sich mit schwellender Brust in Pose werfenden Mannes, der, die Hände in die Hüften gestemmt, mit allem Pomp viktorianischer Macht ausgestattet ist: dunkelroter, goldbesetzter Samtmantel und grau melierte wallende Lockenperücke. Der stolze Viktorianer, der von oben herab einen höchst arroganten Blick auf den Betrachter wirft, ist allerdings ein Schwarzer. Shonibare irritiert, indem er mit Zitaten spielt, sie neu kombiniert und dabei ein eigenes, nicht ernst gemeintes Afrika-Konstrukt entwirft, das vertraute Sichtmuster und Stereotypen im so genannten „Dialog der Kulturen“ als solche erst erkennbar macht. Nach diesem Prinzip „funktioniert“ auch Shonibares Arbeit für die Kasseler Ausstellung.
Die Documenta betritt mit dieser Öffnung zur postkolonialen Kunst neues Terrain – allein steht ihr Kurator mit seinem Ansatz deshalb freilich nicht. Eine kleine Flut von internationalen Kunst-Biennalen hat seit den 90er Jahren die klassische Szene der modernen Kunst aufgemischt: Havanna, São Paulo, Johannesburg, Dakar, Istanbul oder Seoul stehen für einen Trend, der vor allem KünstlerInnen aus dem Süden neue Räume eröffnet. Hier können sie ungewohnte, häufig lokale Zusammenhänge ins Zentrum rückende Perspektiven auf die globalisierte Moderne präsentieren.
Das Mekka dieser postkolonialen Kunstwelt ist indes New York. Hier – oder in anderen westlichen Metropolen – leben die meisten nicht-westlichen KünstlerInnen gewissermaßen im Exil. Und aus der Perspektive dieser Einwandererstadt, in der Mexikaner, Puertoricaner, Koreaner, Juden, Iren, Italiener, Chinesen, Polen, Araber, Vietnamesen, Kambodschaner, Inder, Nigerianer und zahlreiche osteuropäische Immigranten zusammen leben, entwickelt auch Okwui Enwezor seine Fragen – Fragen nach dem Verhältnis von Zentrum und Peripherie, nach dem Begriff von Marginalität oder der Vorstellung vom Lokalen und Globalen unabhängig von nationalen Zugehörigkeiten.
Das hört sich eigentlich alles andere als „spröde“ an – so nämlich titulierten KunstkritikerInnen, wohl noch unter dem befremdlichen Eindruck der eher theorielastigen Plattformen, Enwezors Ausstellungskonzept. Auch „politischer Aktionismus“ auf Kosten von Poesie ist ihm vorgeworfen worden. Wenn es aber Okwui Enwezor gelänge, das Selbstverständnis der hegemonialen Moderne zumindest in der Kunstwelt um ihre marginalisierten Ränder zu erweitern, wäre das ein beachtlicher Fortschritt.
Größer als die Gefahr, Vielschichtigkeit und Freiheit von Kunst auf plakative politische Botschaften zu reduzieren, ist dabei wohl die Wahrscheinlichkeit, dass die Hybridität von Kunst und Künstlern, das heißt ihre Existenz und Identität jenseits und zwischen den Nationen, Kulturen und Kontinenten, zum Markenzeichen wird. Noch irritiert zwar moderne Kunst, die formal und inhaltlich Elemente aus Afrika, Asien oder Lateinamerika aufgreift, bereits durch ihre bloße Präsenz auf Ausstellungen in Europa oder den USA. Die Welle der Süd-Biennalen in den 90er Jahren könnte aber darauf hindeuten, dass es schnell vorbei sein kann mit der derzeit auf dem Kunstmarkt zelebrierten „Andersheit“. Auf dem multikulturellen Basar verlöre die postkoloniale Kunst ihren kritischen Stachel. Vielleicht läutet die documenta_11 diesen Integrationsprozess bereits ein?
Viele offene Fragen, zu denen man sich wohl nur in Kassel selbst ein eigenes Bild machen kann. Der Weg lohnt sich bestimmt. Und wen dabei die anderen 630.999 erhofften BesucherInnen schrecken: Verteilt auf 100 Tage sind das nur 6309,9 pro Tag. Die verlaufen sich sogar in Kassel.
Der Autor ist Islamwissenschaftler, tätig in der politischen Bildungsarbeit sowie als freier Journalist und Redakteur der in Freiburg im Breisgau erscheinenden Nord-Süd-Zeitschrift iz3w.
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