Von Überheblichkeit und Entwicklung

Von Julia Behrens & Philip Degenhardt · · 2020/Mai-Jun

Ein Kommentar zur Corona-Krise aus Vietnam.

Von Julia Behrens & Philip Degenhardt

Ungläubigkeit, Entsetzen, Verwunderung – wenn im Frühjahr 2020 in den vietnamesischen Nachrichten über Europas Umgang mit der COVID-19-Pandemie berichtet wurde, verstanden viele buchstäblich die Welt nicht mehr. Kommentare auf Facebook und in Gesprächen haben einen veränderten Grundtenor: „Ich dachte, Europa sei zivilisiert und entwickelt“, „Aber Europa ist doch reich und Vietnam arm, warum kriegen sie es nicht hin?“.

Das vorhandene Europabild in der vietnamesischen Bevölkerung bröckelt.

Der vietnamesische Staat reagierte sofort, als erste Menschen positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden, und isolierte die Gemeinden, in denen das Virus auftrat. Die gemeinsame Grenze nach China wurde geschlossen und die ersten Rückkehrenden mussten sich in häusliche Quarantäne begeben. Knapp drei Wochen danach traten keine neuen Fälle mehr auf.

Bis „Fall #17“, eine Vietnamesin, die die Fashionweek in Italien besucht hatte, die zweite Welle der Infektionen einläutete. Vietnam zieht den eingeschlagenen Kurs weiter durch: Quarantäne von Menschen, die bis zum 4. Grad Kontakt mit einer infizierten Person hatten, Schulen und Universitäten bleiben weiter geschlossen. Vietnam hat aus vergangenen Krisen wie der SARS-Epidemie gelernt.

Julia Behrens promoviert in Südostasienwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin. Sie ist Mitbegründerin des sozialen Unternehmens VLab Berlin und lebt derzeit in Hanoi.

Philip Degenhardt leitet das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Südostasien mit Sitz in Hanoi.

Diese gekürzte Version des Textes erscheint mit freundlicher Genehmigung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der AutorInnen. Die Lang-version ist auf www.rosalux.de abrufbar.

Gutes Management. Gleichzeitig stand das öffentliche Leben in Europa still. Es scheint schwer zu verstehen, wie es in den Supermärkten und auf den Märkten Vietnams an nichts fehlt, nicht einmal an Desinfektionsmitteln und Atemschutzmasken.

Einige Stimmen machen das autoritäre Vorgehen des vietnamesischen Staates dafür verantwortlich. Sicherlich stimmt es, dass das Aufspüren von möglicherweise infizierten Personenen aufgrund eines geringen bis nicht vorhandenen Datenschutzes in Vietnam einfacher funktioniert.

Doch liegt eine weitere Ursache dafür auch im sozial-politischen Eigenverständnis der westlichen Welt. Die momentane Krise zeigt einmal mehr, wie unbrauchbar und gefährlich das Konzept von Entwicklung ist. Der „entwickelte Westen“ gegen den „unterentwickelten Rest“ ist ein Bild, das schädlich für beide Seiten ist.

Die Überheblichkeit in Europa und Nordamerika, sich auf die eigene „Entwicklung“ zu verlassen und sich nicht zu sehr um ein Virus zu kümmern, vor dem China schon früh gewarnt hat, hat u.a. dazu geführt, dass politische Entscheidungstragende wertvolle Zeit in der Vorbereitung auf die kommende Krise vergeudet haben.

USA überfordert. Ein Blick in die USA zeigt außerdem, wie groß die Lücke zwischen Wahrnehmung und Realität in Sachen „Entwicklung“ ist. Fehlende Gesundheitsversorgung für alle sowie die Privatisierung und Neoliberalisierung des Gesundheitssektors haben Kapazitäten für den Krisenfall kaputt gemacht.

Sowohl Privatisierung als auch Wirtschaftsliberalisierung sind oft Bedingungen, mit denen Kreditvergabe in der Entwicklungshilfe verknüpft sind.

Das ist ein technokratisches und kapitalistisches Entwicklungsmodell, das den Wert einer Gesellschaft ausschließlich an ihrer produktiven Kapazität bemisst.

Solidarität, Kooperation, Wir- statt Ich-Denken sind Werte, die Hamsterkäufe verhindern und eine schnelle Antwort auf die Krise möglich machen. Je schneller und einheitlicher Auflagen zur Eindämmung der Pandemie eingehalten werden, desto mehr Leben können gerettet werden.

Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um über das Konzept der „Entwicklung“ nachzudenken. Denn gerade innerhalb angeblich entwickelter Länder wird deutlich, dass nicht alle von wirtschaftlichem Wohlstand profitieren und nun auf der Strecke bleiben.

Benachteiligte Gruppen wie Illegalisierte, Obdachlose, prekär Beschäftigte, Frauen: für sie alle wird diese Krise viel weitreichendere Folgen haben als für Menschen mit finanziellen Rücklagen, Eigenheim und besserem Zugang zum Gesundheitssystem.

In einem Moment der Krise, in dem viele Strukturen durch reine Notwendigkeit hinterfragt werden müssen, wäre es folgerichtig angebracht, gemeinsam zu überlegen, wie Resilienz gestärkt werden und soziale Ungleichheit auf verschiedensten Ebenen beseitigt werden kann.

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