Keine Grenze ist undurchlässig

Von Helmut Dietrich · · 2019/Mar-Apr

Mit großem Aufwand versucht die Europäische Union, Migration und Flucht über das Mittelmeer zu verhindern. Vergeblich.

Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war das Mittelmeer ein Ort der regen Migration. Nur wenige Hindernisse begrenzten die Wege von Nord nach Süd und von Süd nach Nord. Heute hat sich die Lage komplett gewandelt. Mit immer neuer Technik und viel Geld für afrikanische Autokraten will die EU die Migration nach Europa stoppen.

Das Mittelmeer galt lange Zeit als natürliche Grenze, die leicht zu überwinden ist. Stets hat es unkontrollierte transmediterrane Migrationen in beide Richtungen gegeben. Prominent waren die Fluchten im 20. Jahrhundert aus dem deutsch besetzten Europa und dem franquistischen Spanien in die nordafrikanischen Städte. Bis in die 1980er Jahre war für arabische ArbeitsmigrantIinnen, die ohne Anwerbevertrag in Europa ankamen, nicht die Legalisierung in Europa das Problem, sondern die freie Ausreise aus ihren Herkunftsländern – die Passvergabe wurde restriktiv gehandhabt. Erst zu Beginn der 1990er Jahre entstand ein europäisches Grenzregime, das das Mittelmeer überspannt.

Der Begriff des Grenzregimes wechselte nach dem Fall der Berliner Mauer von Ost nach West. Bezeichnete er zuvor die rigiden militärisch-polizeilichen Grenzanlagen des Ostblocks, so entstand mit dem Schengener Abkommen (1985) und dem Beginn seiner Umsetzung (1990) ein „neues Grenzregime“. Es zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es die vielfältigen grenzterritorialen Praktiken zwischen der EU und ihren Anrainern regelt. Vielmehr weist es eine flüchtlings- und migrationspolitische Dimension auf. In sozialtechnischer Hinsicht produziert es „Illegale“ und hat zu tausendfachem Tod im Mittelmeer geführt.

In wirtschaftlicher Hinsicht umreißt das „neue Grenzregime“ das Wertschöpfungsgefälle an der Peripherie. Der Kolonialismus und der Exodus der europäischen Bevölkerung aus Nordafrika nach dem Ende der Kolonialzeit in den 1950er und 1960er Jahren haben der dortigen Wirtschaft ein schweres Erbe hinterlassen. Die nachholende Entwicklung scheiterte in den 1980er Jahren, und die IWF-Strukturanpassungsprogramme leiteten eine frühzeitige Krisenentwicklung ein. Im Mittelmeerraum ist die EU-Ausdehnung nach den Süderweiterungen ins Stocken geraten. So hat sich ein sozialer Graben zwischen Nord- und Südanrainern des Mittelmeeres ausgebildet, der in der Geschichte wie auch weltweit kaum Vergleich findet. Die enormen sozialen Unterschiede zwischen Europa und den Ländern südlich des Mittelmeers lassen sich kaum in politisch stabilen Systemen einfassen.

Das Grenzregime entsteht. Das Grenzregime, mit dem die europäischen Staaten seit 1990 allmählich die Mittelmeerregion überzogen, entwickelte sich in folgenden Schritten:

In den 1990er Jahren griffen Polizei und Militär rund um das Mittelmeer zu spektakulären Schock-Maßnahmen. Im August 1991 wurden 10.000 albanische Flüchtlinge in das „Stadio della Vittoria“ in Bari eingesperrt und anschließend abgeschoben. Im November 1992 wurden 2.000 westafrikanische Flüchtlinge in die ehemalige Stierkampfarena „Plaza de Toros“ im marokkanischen Tanger verbracht und danach auf dem Luftweg abgeschoben. Die Aktion erfolgte auf Druck und mit Geldern Spaniens. Zu Schock-Maßnahmen müssen auch einige Schiffsunglücke gezählt werden. Dokumentiert ist, dass die italienische Kriegskorvette „Sibilla“ das albanische Flüchtlingsschiff „Kater i Rades“ am 28. März 1997 rammte und 94 Personen, vor allem Frauen und Kinder, ertranken.

Die südeuropäischen Küsten und das Mittelmeer in seiner Gesamtheit galten damals als unkontrollierbar. Ein systematisches Abschiebesystem, das – wie in Deutschland – auf sofortiger Rückschiebung in Grenznähe, langer Abschiebehaft und Massenabschiebung in „Sichere Drittstaaten“ beruhte, ließ sich in Südeuropa weder gesellschaftlich noch behördlich schnell durchsetzen. Die südeuropäischen Staaten traten frühzeitig dem Schengener Abkommen bei, doch dauerte es bis zur dortigen Inkraftsetzung, das heißt, bis die Binnengrenzen wegfielen und die Außengrenzpolitik offiziell übernommen wurde (Spanien: 1991/1995, Italien: 1990/1997, Griechenland: 1992/2000).

In der folgenden Dekade versuchte die EU, ihren grenzpolizeilichen Einfluss auf die Südseite des Mittelmeers auszudehnen. Den Rahmen dafür bildeten der Antiterrorismus nach dem 11. September 2001, die erste Sicherheitsdoktrin der EU 2003 und die im gleichen Jahr verabschiedete Konzeption der EU-Nachbarschaftspolitik. Flüchtlinge und MigrantIinnen aus muslimisch-arabischen Ländern erscheinen seither als Sicherheitsrisiko.

Koordinierte Grenzüberwachung. Das Grenzregime im Mittelmeerraum nahm in dem Jahrzehnt Impulse aus EU-Instanzen auf. 2004 gründete der Rat der Europäischen Union Frontex, die Agentur für die operative Zusammenarbeit an den EU-Außengrenzen. Unter ihrer Regie wanderte die Fahndungsaufmerksamkeit von der „grünen“ Außengrenze in Mittelosteuropa zur „blauen“ Außengrenze des Mittelmeers. Frontex koordiniert länderübergreifende Patrouilleneinsätze in internationalen Gewässern des Mittelmeers und überwacht das Meer aus der Luft.

2003 entwarf die EU-Kommission ein Konzept der virtuellen Seegrenze. Damit war nicht nur der Einsatz neuer Technologien gemeint, die Übermittlung von Reisenden- und Schiffsdateien in Echtzeit und die beginnende High-Tech-Überwachung aus der Luft. Vielmehr zielte die Strategie auf die Vorverlagerung der Kontrollen auf das Meer und auf die Südseite des Mittelmeers. Schon damals sollten in Nordafrika EU-Auffanglager eingerichtet werden.

Im Laufe der 2000er Jahre wurde es unmöglich, dass kurdische, afghanische, iranische und irakische Flüchtlinge zu Tausenden auf großen Schiffen das östliche Mittelmeer überquerten. Die internationale polizeiliche Zusammenarbeit führte zu einer Verschärfung der Küstenkontrollen in der Türkei und im Libanon. In der zentralen Mittelmeerregion wurde Libyen seit 2003 zum Schlüsselland einer ungeregelten EU-Zusammenarbeit im Mittelmeer. Das Gaddafi-Regime akzeptierte völkerrechtswidrige Kollektivabschiebungen aus Italien und Rückschiebungen von Flüchtlingsschiffen aus internationalen Gewässern. Aus Italien erhielt es EU-Gelder für den Aufbau von Lagern, Überwachungstechnologie und Materialhilfe. Tunesien, Algerien und Marokko stellten die nicht genehmigte Ausreise unter Strafe. An alle Küstenwachen des Maghreb lieferten EU-Staaten Patrouillenschiffe.

Die Technologisierung des EU-mediterranen Grenzregimes begann um das Jahr 2000 an der Meerenge von Gibraltar. Mit dem „Sistema Integrado de Vigilancia Exterior“ (SIVE) bündelte die Guardia Civil die optische mit der radarbasierten Aufklärung und überwachte von Spanien aus die marokkanische Küste. Mit dem EU-Projekt „Seahorse Atlantic“ führte Spanien ab 2006 SIVE- und Satellitenerkenntnisse mit Flugzeug- oder Drohnen-Informationen aus Portugal, Mauretanien, Marokko, dem Senegal, Gambia, Guinea-Bissau sowie den Kapverden zusammen.

Technologie gegen Menschen. 2008 legte die EU mit dem „Europäischen Grenzüberwachungssystem“ (Eurosur) einen Plan vor, wie der technologische Schub vom Atlantik auf das westliche, auf das zentrale und schließlich auf das östliche Mittelmeer übertragen werden könnte. 2013 begann die Umsetzung. Eurosur-Einsatzzentren sollen zunächst an der gesamten maghrebinischen Küste aufgebaut werden. Die nordafrikanischen See-Patrouillen würden dann de facto Teil eines „intelligenten“ EU-Grenzregimes werden.

Die technologische Modernisierung des Mittelmeer-Grenzregimes schreitet von West nach Ost voran und lässt sich auch an den Verschiebungen der Zonen nachvollziehen, in denen die meisten Boat-People sterben. In den 1990er Jahren revolutionierte die Guardia Civil die Meeresüberwachung in der Meerenge von Gibraltar in technischer Hinsicht: Sie bekämpfte vor allem die Überfahrt von Holzkähnen und Fischkuttern, die durch Radar und optische Hochleistungstechnik auf den Bildschirmen sichtbar gemacht wurden – die Boat-People stiegen daher auf seeuntaugliche Schlauchboote um. So kamen in dem Jahrzehnt im Mittelmeer die meisten Personen in der Meerenge von Gibraltar um.

Anschließend wichen viele auf längere und gefährlichere Meeresrouten aus: Immer mehr Menschen starben auf der Überfahrt zu den Kanarischen Inseln. Zwischen 1988 und 2012 sollen 20.000 Menschen auf dem Weg nach Andalusien oder zu den Kanarischen Inseln ertrunken sein. Im Jahr 2011, als in Folge des Aufstands in Tunesien und des Kriegs in Libyen die Kontrollen der nordafrikanischen Küstenwachen zusammenbrachen und eine – weltweit einmalige – Dichte der technologischen Überwachung durch Frontex und die Nato in der Straße von Sizilien begann, starben dort 1.500 bis 2.000 Menschen.

Seit 2014 vervielfachten sich die Bootsaufbrüche aus Libyen. 2015 erfolgte, auch aufgrund der drastischen Unterversorgung syrischer Flüchtlingslager in Libyen, Jordanien und der Türkei, der bis dahin unvorstellbare Aufbruch über die Ägäis und den Balkan bis nach Deutschland und Skandinavien. Und 2018 brach auch das weltweit aufwändigste migrationsabwehrende Überwachungssystem zusammen, das Spanien und die EU um Marokko, Mauretanien, den Senegal, Gambia und Guinea-Bissau gelegt haben – wie der starke Anstieg der irregulären Migration über die „Westroute“ belegt. Es hat nur 20 Jahre gehalten.

Helmut Dietrich ist Sozialwissenschaftler und Mitarbeiter der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (www.ffm-online.org).

Basic

Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!

  • 6 Ausgaben pro Jahr als Print-Ausgabe und/oder E-Paper
  • 48 Seiten mit 12-seitigem Themenschwerpunkt pro Ausgabe
  • 12 x "Extrablatt" direkt in Ihr E-Mail-Postfach
  • voller Online-Zugang inkl. Archiv
ab € 25 /Jahr
Abo Abschließen
Förder

Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.

Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

84 /Jahr
Abo Abschließen
Soli

Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!

Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.

168 /Jahr
Abo Abschließen