Wie sich der Blick von Süden nach Norden und zurück in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
Jedes Mal, wenn ich vor der Bibliothek von Alexandria stehe und in der Hoffnung, am Ende des Horizonts Antalya zu sehen, auf das Mittelmeer hinausschaue, kommen mir drei Bilder in den Sinn, die sich tief in mein Bewusstsein eingebrannt haben.
Das erste Bild ist eine Erinnerung an den Hafen von Marseille im Sommer 1977. Ein Junge von 14 Jahren steht neben seiner kleinen Schwester, sie strahlen um die Wette und das kleine Mädchen legt ihre Hand auf die Schulter des Bruders. Ich erinnere mich noch genau, was sie damals zu mir sagte: „Kannst du es fassen, dass wir im Land von Balzac und La Fontaine sind?“ Wir waren gerade mit dem türkischen Schiff „Karadeniz“, zu Deutsch Schwarzes Meer, aus Genua angekommen. Die Hafenarbeiter musterten uns. In ihren Blaumännern auf dem Boden sitzend, wirkten sie abgekämpft und elend. Unbewusst verglich ich damals die französische Hafenstadt mit Alexandria. Gegenüber der Pracht und Erhabenheit der Stadt, in der ich mein Leben lang die Sommermonate verbracht hatte, wirkte Marseille klein und arm.
Verkehrte Welt. Das zweite Bild stammt aus dem Jahr 2007. Wieder ist es der Hafen von Marseille, genau 30 Jahre nach meinem ersten Besuch in Europa. Dieses Mal war die französische Stadt allerdings in funkelndes Licht getaucht. Gepflegte Gebäude, saubere Straßen und strahlende Gesichter, eine Stadt im Aufbruch. Mit Sicherheit gab es hie und da auch Armut, aber ich habe sie nicht gesehen, nicht mit eigenen Augen. Gerade aus Alexandria gekommen, konnte ich nicht anders, als erneut zu vergleichen. Aber die Stadt, die wir einst „die ägyptische Braut des Mittelmeers“ nannten, ist heute trostlos und verschlossen. Was von ihrer Schönheit noch geblieben ist, verschwindet hinter einer hässlichen Fassade.
Ursprünglich aus Alexandria stammend, zog die Familie meiner Mutter 1947 nach Kairo. Mein Großvater erzählte mir später einmal, dass er dort früher für das Recht europäischer Einwanderer kämpfte, sich in Ägypten niederzulassen. Damals hatten die Behörden angefangen, Immigranten aus den nördlichen Mittelmeeranrainerstaaten, insbesondere Italien und Griechenland, das Leben schwer zu machen.
Deswegen stammt das dritte Bild, das mir in einem solchen Moment in den Sinn kommt, aus einem unserer Familienalben: Eine Aufnahme aus dem Hafen von Alexandria von 1947. Sie zeigt eine Gruppe von Immigranten aus Italien, die von den Sicherheitsbehörden dort festgesetzt wurden, nachdem sie ihnen die Einreise nach Ägypten verweigert hatten.
Drei Bilder und drei Stationen, zwischen denen jeweils drei Jahrzehnte liegen.
Die Kluft wird größer. Heute, etwas mehr als zehn Jahre nachdem das letzte Bild entstanden ist, scheinen die südliche und die nördliche Küste des Mittelmeers weiter voneinander entfernt als je zuvor. Die Kluft hat sich unaufhörlich vergrößert, bis sich dieses kleine, gutmütige Meer schließlich in einen tosenden, Unheil versprechenden Ozean verwandelt hat.
Im Angesicht dieses Meeres kommt man nicht umhin, ein paar einfache Fragen zu reflektieren: Was sind die Gründe für den umfassenden ökonomischen, sozialen und finanziellen Niedergang in den südlichen Mittelmeeranrainerstaaten – unseren Ländern? Welche Faktoren sind ursächlich für die täglich wachsende Ungleichheit zwischen Süd und Nord? Die Länder des Südens werden auch als Entwicklungsländer bezeichnet, allerdings entwickeln wir uns rückwärts.
In Ägypten spricht man von zwei wegweisenden Modernisierungsphasen in der jüngeren Geschichte des Landes: Die Herrschaft Muhammad Alis von 1805 bis 1848 und die Ära Gamal Abdel Nassers von 1954 bis 1970. Muhammad Alis Modernisierungsprojekt wurde mit dem Londoner Vertrag von 1840 zwischen Großbritannien, Russland, Österreich, Preußen und dem Osmanischen Reich ein Ende gesetzt. Die Phase der Modernisierung unter Abdel Nasser endete hingegen mit dem Sechstagekrieg, den Israel am 5. Juni 1967 mit Unterstützung zahlreicher westeuropäischer Staaten und der USA begann.
Ein großer Teil der Ägypterinnen und Ägypter ist der Ansicht, dass die ehemaligen Kolonialherren nicht nur die Modernisierungsbestrebungen in Ägypten, sondern auch in den Ländern des globalen Südens allgemein bekämpften. Nur eine kleine Minderheit denkt, dass wir die Schuld nicht nur auf andere schieben dürfen. Stattdessen sollten wir uns eingestehen, dass die gebrochenen Zukunftsversprechen auch ein Ergebnis der Unfähigkeit unserer politischen Systeme sind, den Staat zum Wohle aller zu lenken. Die Lage wird zusätzlich dadurch verschärft, dass die Regierungen zahlreicher Staaten in der Region seit fünf Jahren immer ungehemmter Subventionen kürzen und streichen, ohne sich um die sozioökonomischen Folgen zu kümmern. Die Preise für Treibstoff, Strom, Wasser und öffentliche Verkehrsmittel sind genauso wie die Mieten in einem Ausmaß gestiegen, das ein Großteil der Menschen nicht mehr kompensieren kann. Der Druck auf die ärmeren Schichten, die circa 70 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, steigt rapide.
In dieser Situation ist aus dem Mittelmeer ein Zwischenraum geworden, der auf dem Weg in den Norden überwunden werden muss – koste es, was es wolle. Der Tod sei ihnen sicher auf dieser Seite des Meeres, sagen sich die Menschen. Warum also nicht die Überfahrt wagen? Wer stirbt, hat nicht viel verloren, wer aber ankommt, der hat es geschafft.
Nichts zu verlieren. In letzter Zeit erzählten mir mehrere Ägypter, dass ihr Ziel sei, in einem der westeuropäischen Länder ins Gefängnis zu kommen. Dort gäbe es wenigstens medizinische Versorgung, etwas zu essen und ein Bett für die Nacht. Wie ein Zwangsarbeiter der ägyptischen Regierung fühle er sich, sagte mir ein junger Mann aus Kairo kürzlich. Er schufte den ganzen Tag und arbeite sich zu Tode, zum Überleben reiche es aber trotzdem nicht. Er sähe nur zwei Lösungen: Entweder er bringe sich um, oder er versuche schwimmend an die Küste Europas zu gelangen.
Die Bevölkerung Ägyptens ist derweil auf 95 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner angewachsen, von denen 61 Prozent unter 29 Jahre alt sind. Das ist ein enormes Potenzial, das vernachlässigt und nicht ausgeschöpft wird. Für diese jungen Menschen gibt es weder genug Arbeit, noch ausreichend Schulplätze. Die meisten von ihnen verlassen das Bildungssystem im Alter von ungefähr 15 Jahren mit unzureichenden Schreib- und Lesekompetenzen. Dann vertreiben sie sich die Zeit auf den Straßen und warten auf eine Chance, die wahrscheinlich nicht kommt. Was bleibt ihnen anderes übrig, als von der anderen Seite des Mittelmeers zu träumen? Das gilt umso mehr, seit ihnen auch die Golfstaaten weniger Arbeitsmöglichkeiten bieten als in der Vergangenheit.
Die Bibliothek von Alexandria im Rücken, beobachte ich das Tosen der Wellen und spüre, wie mich die Sorge um die Menschen diesseits des Mittelmeers innerlich zerfrisst.
Übersetzung aus dem Arabischen von Thomas Heyne.
Chalid al-Chamissi ist Journalist und einer der wichtigsten Schriftsteller Ägyptens. Sein bekanntestes Buch „Im Taxi. Unterwegs in Kairo“ erschien 2011 in deutscher Übersetzung im Lenos Verlag.
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