Wie Indiens Wirtschaftsleistung wird auch die Umweltzerstörung am Subkontinent immer größer.
Ein Ausflug mit Umweltaktivist Nityanand Jayaraman zur Bucht von Ennore, am nördlichen Rand der Hafenstadt Chennai, ist wie eine Leistungsschau der Umweltzerstörungen in Indien. Hier am Strand hat man einen unverstellten Blick – auf eine Landzunge aus Betonbrocken. Sie soll den Hafen schützen. „Tatsächlich führt sie zur Erosion des Strandes“, sagt Jayaraman. Seine Haare hat er zum Zopf gebunden, im Gesicht einen Paar-Tage-Bart. Er sieht aus wie ein Aktivist aus dem Bilderbuch.
Die Betonbarriere unterbricht den Fluss des Sandes, den die Meeresströmung die Küste hinauf- und hinuntertreibt. Das Meer kommt immer weiter an die Hütten und Häuser heran, die direkt am Strand stehen. Und es reißt immer wieder Löcher in die Wellenbrecher. „Politiker und Unternehmer lieben die Wellenbrecher“, sagt Jayaraman. Nicht trotz, sondern wegen des ganzen Aufwands, den sie bedeuten: Das bringt Umsatz, kurbelt die Wirtschaft weiter an.
Indiens Wirtschaft wächst rasant, noch schneller als die chinesische (vgl. auch Kasten S. 25). Die Bebauung von Überflutungsgebieten und die Versiegelung von Flächen gehören zum Aufschwung dazu – und bringen große Kollateral- und Folgeschäden mit sich.
Jayaraman setzt sich mit der Organisation Coastal Resource Centre gegen die Bebauung von natürlichen Überflutungsflächen in Chennai ein.
Er zeigt über die Bucht: Durch Kohlekraftwerke ist die Luft mit Feinstaub, Schwefel und Stickoxiden belastet. Ausnahmslos alle 1,3 Milliarden InderInnen, so die Weltbank, sind einer Feinstaubbelastung ausgesetzt, die die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation WHO übertrifft.
Eine kurze Autofahrt, eine Brücke über eine Bucht, die genau genommen keine Bucht mehr ist. Alles grau, alles voller Asche. Die Kohlekraftwerke haben ihre Rückstände so lange ins Wasser gekippt, bis kein Wasser mehr da war. „Sie haben Teile der Bucht aufgeschüttet, auch ein Flussbett, Überflutungsgebiet für die Monsunzeit. Damit sind 100.000 Menschen von einer Flutkatastrophe bedroht“, erklärt Jayaraman.
Zum Wachstumswahn kommt noch der Klimawandel: Der Monsun wird immer unberechenbarer und heftiger. Oft ist die Bebauung illegal. Auch in der Ennore-Bucht, wie Jayaraman und seine Mitstreiter vom Coastal Resource Centre herausfanden.
Um jeden Preis. In den indischen Metropolen ist die Umweltbelastung besonders groß, denn Indiens Städte wuchern. „Die größten Städte gelten den Regierenden als zuverlässigste Treiber des Wirtschaftswachstums“, erklärt Karen Coelho vom Madras Institute of Development Studies. „Also sind sie bestrebt, dieses Wachstum anzuheizen.“
Großer Aufschwung, große Probleme
Indien ist derzeit die am schnellsten wachsende große Wirtschaftsnation. Ihr Wirtschaftswachstum liegt bei mehr als sieben Prozent, noch über dem von China. Zehn der 20 schmutzigsten Großstädte der Welt liegen auf dem Subkontinent.
Drei Viertel des Strombedarfs decken oft veraltete Kohlekraftwerke. Jährlich sterben Schätzungen zufolge 1,8 Millionen InderInnen vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung.
Indien verbraucht das meiste Grundwasser aller Länder weltweit. Es wird davon ausgegangen, dass jährlich 640.000 InderInnen an verunreinigtem Wasser sterben. M.W.
Es ist ein Wachstum um jeden Preis, ohne Rücksicht auf Verluste. Wohin das führt, lässt sich an Indiens Lebensadern ablesen, den Flüssen. Beispiel Ganges: Gerbereien, Fabriken und Haushalte machen den 2.500 Kilometer langen Strom zur längsten Kloake der Welt.
Auch aus Trinkwasser wird derweilen Profit gemacht: Einst war Wasser in Indien kostenlos und für alle da, auch wenn die Menschen zum Teil große Strecken dafür zurücklegen mussten. „Für immer mehr Menschen gilt das nicht mehr“, sagt P. Sathiyaselvam von der Bombay Natural History Society. Eine Literflasche Trinkwasser kostet heute bis zu 40 Rupien, einen halben Euro. Ein kleines Vermögen für die Bäuerinnen und Bauern, die noch immer den Großteil der Bevölkerung stellen und deren Familien im Schnitt von 85 Euro im Monat leben.
Recycling im Slum. Auch ein Großteil der Stadtbevölkerung lebt in ärmlichen Verhältnissen. So verfügt etwa nur jeder fünfte städtische Haushalt über eine Toilette. Schätzungsweise 18 Prozent der urbanen Bevölkerung leben in Slums.
Einer der größten Slums mit einer Million Bewohnerinnen und Bewohnern ist Dharavi, inzwischen im Herzen von Mumbai gelegen.
In den Gassen türmen sich mannshoch Säcke mit Plastikmüll. „Ein Großteil des städtischen Mülls landet hier“, sagt Chetan Pawar. Der 27-Jährige stammt aus dem Slum. Er brachte sich Englisch bei, indem er Hollywoodfilme ansah. Heute führt er Touristinnen und Touristen durch sein Viertel – das hat sich, seit Dharavi die Kulisse für den Film „Slumdog Millionaire“ war, zum kleinen Wirtschaftsfaktor gemausert.
Nichts im Vergleich zu den acht Tonnen Getränkedosen und 17 Tonnen Plastik, die hier Tag für Tag recycelt werden. Aludosen werden zu Maschinenteilen gegossen. Plastik wird gesäubert, eingeschmolzen, zu langen Fäden gezogen, zu Pellets gepresst, nach Farben geordnet und als Rohmaterial verkauft. Auch Glas, Altpapier, ausrangierte Farbkanister verdauen die Gassen.
Wie eine unheilige Riesenkuh schluckt Dharavi den Müll Mumbais, lässt ihn durch seine Mägen wandern und stößt ihn wieder auf. Die meisten ernährt Dharavi mehr schlecht als recht. „Ein Kilo recyceltes Plastik bringt 68 bis 72 Rupien“, erklärt Pawar. Das sind rund 90 Cent. „Die Arbeiter selbst bekommen nur einen Bruchteil, obwohl sie ihre Gesundheit in den giftigen Dämpfen zugrunde richten.“
Aus den Augen, aus dem Sinn. Zum Müll hat Indien ein besonderes Verhältnis. Ihn zu beseitigen, ist traditionell Sache der untersten Kasten, er gilt auch im moralischen Sinn als schmutzig (vgl. auch Artikel „29 Gebote für eine bessere Welt“ in Südwind-Magazin 1-2/2019).
Bis heute wird alles, was Abfall ist, am Rand der Gesellschaft abgeladen. Und dann, so gut es geht, vergessen. Deshalb kann Sunita Narain, Direktorin des Centre for Science and Environment in Delhi, verpesteter Luft fast schon etwas abgewinnen. Beim Müll, bei den Flusskloaken kann man wegschauen. „Aber jeder muss ab und an Luft holen“, meint Narain. „Sogar die Reichen. Deshalb ist mir die Luftverschmutzung viel lieber als die verdreckten Flüsse. Sie ist ein Gleichmacher.“
Wenn der Winter kommt und den Smog über Nordindien verdichtet, wird Narain zu einer der gefragtesten Interviewpartnerinnen des Landes. Die Zeitungen sind dann wieder voll mit dem Thema schlechte Luft.
Aber sie sind auch voll mit Werbung, die der Situation angepasst ist: Ein Schulmädchen im Smog, zugekniffene Augen, Taschentuch vor dem Mund, wirbt für eine ayurvedische Kräutermixtur. Dr. Morepen Luftreiniger versprechen „99,9 Prozent saubere Luft für Ihr Schlafzimmer“. „OXY99“ wird gepriesen – Sauerstoff in Spraydosen, 125 Gramm, 650 Rupien. Der kapitalistische Kreisel dreht sich weiter.
Markus Wanzeck ist Reporter und Redakteur bei der Agentur Zeitenspiegel. Seine Recherchereisen führen ihn regelmäßig nach Asien und Afrika.
Südwind-Magazin Ausgabe 1-2/2019 widmete sich bereits dem Thema Umwelt & Indien, konkret dem Volk der Bishnoi in Nordwest-Indien: www.suedwind-magazin.at/29-gebote-fuer-eine-bessere-welt
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