29 Gebote für eine bessere Welt

Von Markus Wanzeck · · 2019/Jan-Feb

Die Angehörigen der Bishnoi im Nordwesten Indiens sind Naturschützer der besonderen Art – aktuell kämpft das Volk nicht zuletzt gegen Plastikmüll.

Von Markus Wanzeck, Rajasthan/Indien

Es ist dunkel und kühl und eine halbe Stunde vor Mitternacht, als der Mann mit dem Turban und einer Umhängetasche in den Bus steigt. Die bitterkalte Nachtluft der Wüste Thar scheint ihn nicht zu kümmern. Er hat eine Mission.

Jodhpur, Bundesstaat Rajasthan. Sechs Stunden sind es bis Sanchore, ein 70.000-Seelen-Städtchen nicht weit von der Grenze zu Pakistan. Am nächsten Tag ist dort Markt.

Wie jeden Monat wird der Mann hier eine Demonstration anführen. Seine Mission: „Clean India“, wider den Plastikmüll. In seiner Tasche: 150 handgemachte Pappschilder. „Your planet needs you“ steht auf einem der Schilder, auf einem anderen: „Give us food not plastic“.

In der Thar, im Nordwesten Indiens, lebt seit Jahrhunderten das Volk der Bishnoi. Ihre Religion wurzelt in der grenzenlosen Liebe zur Natur. Heute kämpfen sie mit einem Problem, von dem ihre Vorfahren nichts ahnten: Müllberge.

52 Jahre alt ist der Initiator der Demo mit den zwischen silbernem Schnurrbart und Turbanunterkante kindlich strahlenden Augen. Sein Name Khamu Ram Bishnoi verrät: Er ist Angehöriger ebendieser Glaubensgemeinschaft, der Bishnoi, gegründet von Guru Jambheshwar im Jahr 1485 unserer Zeitrechnung.

Damals, als Rajasthan unter einer verheerenden Dürre litt, hatte der Hirte Jambheshwar eine Erleuchtung. Die Vision einer weniger wüsten, friedvolleren Zukunft. In der Menschen im Einklang miteinander und mit der Natur leben würden. In der Bäume nicht Feuerholz und Tiere nicht Fleischlieferanten wären.

Jambeshwar stellte 29 Gebote auf und gab damit den Bishnoi ihren Namen – 20 heißt auf Hindi „bish“ und neun „noi“. Viele Regeln betreffen den Umgang mit der Umwelt. Fälle keine grünen Bäume! Esse kein Fleisch! Fühle mit allen Lebewesen!

Es gibt keine verlässliche Zahl, wie viele Menschen dieser Religion heute folgen, Schätzungen zu Folge sind es ein bis zwei Millionen. Ihr Stammland ist auch nach mehr als 500 Jahren die Wüste Thar. Wo Bishnoi leben, ist diese Wüste grüner, sind die Tiere zutraulicher.

Es kommt vor, dass Bishnoi-Frauen verwaiste Tierbabys säugen. Viele Bishnoi, obwohl auch sie zu den Hindus zählen, verbrennen ihre Toten nicht. Sie beerdigen sie, um kein Holz für Feuer zu verschwenden.

„Die Bishnoi sind die besten Wasserschützer der Welt“, sagt Rajat Bhargava, leitender Wissenschaftler der Bombay Natural History Society in Mumbai. „Sie bewahren jeden einzelnen Tropfen.“ Manohar Singh, seit drei Jahrzehnten Tierpfleger und verantwortlich für die Wildtierrettungsstation in Jodhpur, verweist auf ihren Einsatz für Tiere: „Manche fahren verletzte Gazellen im eigenen Auto hierher, damit wir sie schneller behandeln können.“

Widerstand um jeden Preis. Wenn indische Zeitungen über die Bishnoi berichten, fallen Wörter wie „Ökokämpfer“ oder „Märtyrer“. Das prägendste Ereignis in ihrer Geschichte, im Jahr 1730, als 363 Frauen und Männer ihr Leben ließen, hallt bis heute nach. Der Maharadscha von Jodhpur hatte befohlen, für seinen neuen Palast Khejri-Bäume zu fällen. Doch in der Nähe des Dorfs Khejarli stellte sich eine Bishnoi-Frau, Amrita Devi, den Soldaten in den Weg und umarmte einen der Bäume. Dann schlugen die Soldaten zu. Immer mehr Bishnoi kamen aus den Dörfern, stellten sich vor die Bäume – und wurden geköpft.

Auch heute noch geben Bishnoi ihr Leben, etwa beim Versuch, Wilderer zur Strecke zu bringen. Allein im Jahr 2016, meldete das indische Online-Magazin Firstpost, sorgten die Bishnoi dafür, dass in Rajasthan mehr als 1.700 Menschen wegen Wildtiervergehen festgenommen wurden.

Herausforderung Müllentsorgung. Auftaktkundgebung der Demo. Ein sandiger Platz, strahlend blauer Himmel. Banner und Khamu Rams Schilder werden verteilt. Ein Vertreter der Stadt ist zur Begrüßung gekommen. Khamu Ram reicht ihm das Mikrofon. „Nehmt Stofftaschen statt Plastiktüten!“, ruft der Mann. Und Khamu Ram: „Die kann man leicht selbst nähen!“

Ein Pulk von Dutzenden Männern und Frauen zieht los. Bald sind es Hunderte. Viele sind aus Dörfern, teils Stunden entfernt, angereist. Die Frauen vorneweg, sie rufen, sammeln den Müll von der Straße.

Manchmal macht die indische Tradition das aus dem „Westen“ importierte Konsumleben noch verheerender als es ohnehin schon ist. „Es stehen überall Müllcontainer am Straßenrand, das ist nicht das Problem“, erklärt Khamu Ram. Aber sie bleiben leer. Stattdessen wächst davor ein Müllhaufen, den dann der Wind oder der Monsunregen oder die heiligen Kühe in alle Himmelsrichtungen verteilen.

„Die Menschen wollen dem Müll so fern wie möglich bleiben, um Unreinheit zu vermeiden. Das ist ein tausende Jahre altes Denken und Fühlen. Also werfen sie den Müll von weitem vor den Container.“

Dazu kommt, dass die Müllentsorgung traditionell Sache der untersten Kasten ist – alle anderen versuchen ihn zu ignorieren, so gut es geht.

Aber Khamu Ram hat Geduld. Den 29 Geboten hat er ein 30. Gebot hinzugefügt: „Vermeide Plastikmüll, wann immer möglich!“

Der Müll hat sich inzwischen zum größten Umweltproblem Indiens entwickelt (zur Situation in anderen Regionen der Welt vgl. Artikel „Inspektion der Plastiksackerlpolizei“ in Südwind-Magazin 9-10/2018): Landschaften, von Verpackungsfetzen übersät. Der Ganges, einst heiligster Fluss, ist der größte Müllschlucker des Landes geworden. 115.000 Tonnen Plastik, so die Schätzung einer Studie, 2017 im Fachmagazin Nature Communications erschienen, spült er jedes Jahr in den Golf von Bengalen.

Khamu Ram spricht mit jeder Marktverkäuferin, geht in jeden Laden entlang des Wegs und bittet, der Kundschaft doch keine Plastiktüten mehr zu geben. Ein Ladenbesitzer beschwert sich lautstark: Warum die Demonstranten die Straße saubermachen würden, nicht aber seinen Laden? Dann zwinkert er. Es ist der bestgelaunte Protestzug der Welt.

Doch Khamu Ram ist es ernst damit. Die Menschen, sagt er, verlieren den Bezug zu ihren Wurzeln. „Sie beuten die Natur aus. Sie sind unersättlich. Sie wollen nehmen, nicht mehr geben. So gerät das Leben aus der Balance.“

Im richtigen Leben, wenn man damit den Beruf eines Menschen meint, ist Khamu Ram Bishnoi leitender Justizassistent am Rajasthan High Court in Jodhpur.

Naturschützer und Menschenfreund ist er aus Berufung: Die Aufmerksamkeit der Menschen sei sein Lohn.

Abends, in Sanchore, als er noch etwas zu essen kaufen geht, erwartet Khamu Ram Bishnoi reichlich davon. Alle paar Meter eine Begrüßung, eine Umarmung, ein Selfie. Als er den Gemüsestand erreicht, zeigt Khamu Ram auf die Zwiebeln, die Paprika, die Kartoffeln, die Chilis. Dann reicht er der Gemüsefrau eine Stofftasche.

Markus Wanzeck ist Reporter und Redakteur bei der Agentur Zeitenspiegel. Seine Recherchereisen führen ihn regelmäßig nach Asien und Afrika.

In der nächsten Ausgabe folgt ein zweiter Teil zum Thema Umwelt & Indien.

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