Wie Musa Fata, ein Migrant aus Gambia in Italien und Ravali Medari, eine Dalit-Studentin in Indien, mit ihren prekären Zukunftsaussichten umgehen.
"In Gambia redet man über mich“, sagt Musa Fata, während er am Eingang zu einem Kellerlokal in Neapel Eintrittskarten verkauft – zu seinem ersten Gig als DJ seines Lebens. Und es stimmt: Die jungen Leute in seiner Heimat wollen unbedingt wissen, wie man in Europa lebt. Sie verfolgen, was der 24-jährige Afrobeat-DJ in seinen regelmäßigen Livestreams auf Facebook über Musik und Mode zu sagen hat, und dürfen dabei auch seine nagelneuen Turnschuhe, seine makellos gebügelte Kleidung und seine Cornrows-Flechtfrisur bewundern.
Musa kam im Rahmen der großen Migrationsbewegung der vergangenen Jahre nach Europa. Er schaffte es durch die gefährliche Wüste bis nach Libyen, wo er Autoscheiben putzte, um die 500 libyschen Dinar (umgerechnet etwa 360 US-Dollar) für einen Schmuggler zu verdienen, der ihn übers Mittelmeer brachte. Im August 2015 wurde er von der italienischen Küstenwache aufgegriffen und gelangte auf europäischen Boden.
Zwei Jahre lang wartete er auf eine Entscheidung in seinem Asylverfahren. Er lebte in einer Flüchtlingsunterkunft, einem früheren Hotel 150 Kilometer südlich von Neapel, zusammen mit rund 400 anderen AsylwerberInnen. Die meisten Flüchtlinge verbrachten ihre Zeit mit „Schlafen, Essen und damit, sich mit ihren Freunden zuhause über WhatsApp zu unterhalten“.
Nicht aber Musa. Er versuchte vor allem, Geld zu verdienen und zu sparen. Er war fest entschlossen, einen „ruhigen Kopf“ zu bewahren, auch als ihm klar wurde, dass Italien kein Land der unbegrenzten Möglichkeiten war und es auch für ItalienerInnen selbst schwierig war, Arbeit zu finden.
Hyperflexibel. Seinen ersten Winter verbrachte Musa die meiste Zeit an der Straße vor dem früheren Hotel und wartete darauf, dass jemand vorbeikam und ihm Arbeit anbot. „Ich versuchte es jeden Tag“, erzählt er. „Aber man musste Glück haben, um wenigstens irgendeine Arbeit zu finden.“
Im nächsten Jahr nahm ihn dann jemand mit, zum Tellerwaschen in einem Restaurant in einer nahegelegenen Stadt an der Küste. Er arbeitete fleißig, und die Besitzer waren von ihm angetan. Sie behielten ihn über den Sommer. Was sie ihm hin und wieder zahlten, lief in Summe auf ein paar Euro die Stunde hinaus. Auch wenn er schwarz arbeitete, hatte er zumindest ein Dach über dem Kopf und ein Gratis-Abendessen dazu.
Wenn er nicht am Tellerwaschen war, nahm er den langen Weg bis Neapel auf sich, wozu er zwei Busse und einen Zug brauchte, um geschmuggelte Zigaretten zu kaufen. Die verkaufte er dann, ganz Unternehmer, stückweise an andere Flüchtlinge.
Musa hat mittlerweile Asyl erhalten. Sein Domizil ist eine winzige Erdgeschoßwohnung im Zentrum Neapels, nicht weit vom Bahnhof, die er zu zweit bewohnt. Er hat eine Arbeitsberechtigung, aber es ist nicht leicht, einen Job zu finden, wenn 40 bis 50 Prozent der jungen Leute keine Arbeit haben und viele in Neapel „uns Schwarze nicht mögen“, wie es Musa ausdrückt.
Der Traum vom DJ. Der Erfolg seiner jüngsten Party hat seinem Traum, ein „big, big, big DJ“ zu werden, etwas Substanz verliehen. Die Besitzer der Bar waren immerhin bereit, ihm die Hälfte der Eintrittseinnahmen zu überlassen. Afrobeats sind beliebt, und er überlegt nun, sich als Promoter anderer DJs und Musiker aus Gambia zu versuchen, die als Asylwerber nach Italien gelangten.
Vorläufig muss Musa aber vor allem eines sein: flexibel. Ob er auf den Stränden herumspaziert, um Bikinis zu verkaufen (einer seiner vielen Jobs), oder an einem neuen „Business Plan“ arbeitet, seine Zukunft bleibt ungewiss.
Sophia Seymour & Daisy Squires
Es ist eine beeindruckende Entwicklung, die Ravali Medari hinter sich hat: das schüchterne Mädchen, das sich den Antrag auf Zulassung zur Universität vom älteren Bruder ausfüllen ließ, hat sich in eine leidenschaftliche und charismatische Aktivistin verwandelt.
Studieren in Indien ist Schwerarbeit. Das hohe Lernpensum, die Konkurrenz und der Stress überfordern viele Studierende. Doch die 22-jährige Ravali hat diesem Druck nicht nur standgehalten, sondern sich gleichzeitig maßgeblich an einer studentischen Protestbewegung beteiligt – während der vergangenen beiden Jahre war die Universität von Hyderabad, wo sie ein Masterstudium der Anthropologie absolviert, ein Brennpunkt studentischer Rebellion.
Die Universität kam monatelang nicht aus den Schlagzeilen, nachdem Rohith Vemula, ein junger Doktoratsstudent und Dalit, seinem Leben am 17. Jänner 2016 ein Ende gesetzt hatte. Er und vier andere Dalit-Studenten hatten es gewagt, sich offen gegen den rechten Hindu-Extremismus zu stellen. Die Universitätsleitung reagierte drakonisch: Die Studierenden wurden aus der Universität ausgeschlossen und aus dem studentischen Wohnheim geworfen; Vemula verlor sein monatliches Stipendium.
Der Selbstmord Rohiths riss frische Wunden auf und löste landesweit Proteste aus, bei denen Meinungsfreiheit, staatliche Repression und die Vorherrschaft des Kastensystems im Zentrum standen.
Alltägliche Diskriminierung. Dalits stehen auf der untersten Stufe des indischen Kastensystems und sind in allen Lebensbereichen mit Diskriminierung konfrontiert. Die Art, wie die Universität Rohith und seine Kollegen behandelte, kam einem rituellen Kastenausschluss gleich, einer öffentlichen Demütigung, die sie brechen und ihre Identität zerstören sollte.
Ravali, ebenfalls Dalit, sind diese Ereignisse in lebhafter Erinnerung. Zahlreiche indische Zeitungen veröffentlichten den herzzerreißenden und radikalen Abschiedsbrief Vemulas, der sie dazu brachte, politisch aktiv zu werden.
Ravali stand an vorderster Front der Proteste. Die Universität wurde schließlich abgeriegelt, Polizei und paramilitärische Einheiten wurden auf dem ausgedehnten, parkähnlichen Campus stationiert. Mit ihren leidenschaftlichen Reden wurde die Sängerin und Schauspielerin einer progressiven Theatergruppe zu einer auffälligen Figur.
„Es wird nicht toleriert, dass Dalit aufbegehren“, sagt Ravali in einem Rückblick auf die turbulenten Ereignisse auf dem Campus. „Die Institution verhielt sich intolerant. Mit der Polizeipräsenz auf dem Campus wollten sie uns zweifellos einschüchtern. Das liegt aber daran, dass sie Angst vor uns haben. Deshalb versuchen sie, unsere Rechte einzuschränken.“
Anfangs war sie Vizepräsidentin der marxistischen Students‘ Federation of India an der Universität, doch die Kastenproblematik, die den Protesten zugrunde lag, veranlasste sie dazu, sich der Ambedkar Students Association anzuschließen, der auch Rohith Vemula angehörte – benannt nach Bhimrao Ramji Ambedkar, dem revolutionären Dalit-Führer aus der Zeit der indischen Unabhängigkeit.
Zahlreiche Hürden. Unter einem Bild von Ambedkar auf einem Kalender, der einzigen Dekoration auf den nackten Wänden ihres Zimmers an der Universität, frage ich Ravali, wie sie es schafft, ihr politisches Engagement und ihr Studium unter einen Hut zu bringen. Wie die meisten Studierenden in Indien hat sie ein umfangreiches Lernprogramm zu absolvieren; ich musste mehr als zwei Wochen warten, bis sie Zeit für dieses Interview hatte.
Vom angeblichen Egoismus der Millennials ist bei Ravali nichts zu bemerken, und ihre Ausbildung und ihre Bemühungen, die Welt zu verändern, scheinen fließend ineinander überzugehen. „Die ganze Politik, das Zuhören bei den Diskussionen, das hilft mir bei meinem Studium, es hilft mir, die Welt rund um mich zu verstehen.“
Ravali kennt die Hürden, die Dalit-Gemeinschaften im ländlichen Indien überwinden müssen. Ihre Familie lebt in Manthani, einer Kleinstadt im Bezirk Karimnagar, etwa sechs Autostunden von Hyderabad entfernt. Für die zig-tausenden Kinder dort gibt es laut Ravali nur drei Highschools mit englischsprachigem Unterricht, und die englischsprachige Missionarsschule, die sie besuchte, befand sich weit außerhalb der Stadt. Englisch sprechen zu können ist in Indien zunehmend wichtig, aber der Zugang zu englischsprachigen Schulen hängt in der Praxis oft von der Klassen- und Kastenzugehörigkeit ab.
Wir kommen auf den gnadenlosen Kampf um Studienplätze zu sprechen, der die größte Sorge junger Menschen in Indien zu sein scheint. Ihre Analyse: „Der Konkurrenzkampf wird vom Markt geschaffen. Universitäten operieren selbst wie Märkte, nach dem Prinzip ‚wer zuerst kommt, mahlt zuerst‘. Sie neigen dazu, jemanden aus einer Elite-Familie, der in dritter Generation eine Hochschule besucht, genauso zu behandeln wie jemanden, der das als erster in seiner Familie tut. Das rechtfertigen sie mit dem individualistischen Leistungsprinzip.“
Ravali hat vor, ein PhD-Studium zu beginnen, aber nicht so bald: „Ich brauche eine Pause“, sagt sie, um danach hinzuzufügen: „Aber ich habe bereits mein Forschungsthema gewählt: Protestmusik.“ Und ihre Pläne für die nähere Zukunft? Ihre Antwort kommt ohne Zögern: „Ich werde das tun, was ich jetzt tue“, versichert sie. „Gegen das Kastensystem kämpfen, und gegen den Kapitalismus.“
Meena Kandasamy
Copyright New Internationalist
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