Woher der Mexikoplatz seinen Namen hat und was das mit dem „Anschluss“ 1938 zu tun hat – dem widmete sich ein Geschichtsspaziergang der besonderen Art. Simon Loidl war dabei.
Ein windiger Nachmittag zu Allerheiligen. Mexiko feiert an diesem Tag den „Día de los Muertos“. Wir sind aber nicht in Amerika, sondern am Mexikoplatz im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Das Performancetheater Brut hat zu einem Geschichtsspaziergang mit dem Dramaturg Gin Müller und dem zwischen Mexiko und Wien pendelnden Arzt und Menschenrechtsaktivisten Ricardo Loewe geladen.
Im Zentrum des Gesprächs steht der Name des Platzes: 1956 beschloss die Stadt Wien die Benennung, um daran zu erinnern, dass Mexiko im März 1938 als einziges Land offiziell vor dem Völkerbund gegen den „Anschluss“ Österreichs an NS-Deutschland protestierte. In der von dem mexikanischen Diplomaten Isidro Favela verfassten Protestnote heißt es, die österreichischen Behörden, „welche der Gewalt weichen mussten, haben nicht frei gehandelt“.
Damit widersprach Favela der damals verbreiteten Diktion, dass Österreich freiwillig gehandelt habe. Nicht zuletzt aufgrund dieser vermeintlichen „Freiwilligkeit“ gab es kaum internationalen Protest. Menschenrechtsaktivist Loewe fasst es in seinen Worten zusammen: In Favelas Dokument stehe quasi, dass „der Völkerbund ein Saftladen ist“. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ begannen die Verfolgungen. In Deutschland habe sich über Jahre entwickelt, was in Österreich binnen weniger Wochen passiert sei, so Loewe, der selbst im Exil in Mexiko zur Welt kam. Sein Vater, ein deutscher Staatsbürger, war bereits seit 1934 in Mexiko. Seine Mutter floh mit ihrer Familie ein paar Wochen nach dem „Anschluss“ nach Mexiko, wo sie bald ihren künftigen Mann kennenlernte.
Neustart. Wie zumeist waren auch bei dieser Flucht persönliche Beziehungen entscheidend. Eine Tante wohnte in Mexiko. Loewe beschreibt sein Schicksal in drastischen Bildern: „Wäre meine Mutter nicht geflüchtet, wäre ich eine Gaswolke.“ Er fügt hinzu: „Sie können sich vorstellen, ich bin Antifaschist.“
„Ich habe das Privileg, in zwei Welten zu leben“, so Loewe, „im Gegensatz zu Flüchtlingen heute wurde von uns nicht verlangt, dass wir unsere Identität aufgeben.“
Während die Dämmerung hereinbricht, wandert die Gruppe vom Gedenkstein, auf dem der Name des Platzes erklärt wird, zur imposanten Kirche, umgangssprachlich „Mexikokirche“. Dies sei aber unrichtig, erläutert Müller, tatsächlich handle es sich um die Franz-von-Assisi-Kirche. Einen Mexikobezug weise aber die Votivkirche im neunten Bezirk nahe der Universität auf. Erzherzog Ferdinand Maximilian, der Bruder von Kaiser Franz Joseph, hatte nach einem Attentat auf den Kaiser 1853 zu Spenden zum Bau einer Kirche aufgerufen. Maximilian wurde noch vor deren Fertigstellung zum Kaiser von Mexiko gekrönt, wieder entmachtet und hingerichtet.
Inspiration. Zurück in Wien-Leopoldstadt: Der nördliche Teil des Mexikoplatzes ist von Gemeindebauten umsäumt. Wie viele Politiker aus aller Welt seien auch mexikanische in den 1920er und 1930er Jahren angereist und hatten sich vom „Roten Wien“ inspirieren lassen, führt Müller aus. Auch Loewe spricht über den sozialen Wohnbau. Und er erzählt von der Exil-Community, von aktuellen sozialen Bewegungen in Mexiko, von Filmen über den Revolutionär Pancho Villa, deren Aufführungen in Wien während der Zeit des Austrofaschismus von Sozialdemokraten für Protestbekundungen genutzt wurden.
Der Menschenrechtsaktivist beantwortet noch Fragen der etwa drei Dutzend Mitspazierenden, bis es dunkel wird. Dann verschwinden die Teilnehmenden in unterschiedlichen Richtungen über den Mexikoplatz.
Simon Loidl ist freier Journalist und Historiker, er lebt in Wien.
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