Mit „Smart Cities“ will Indiens Regierungschef Narendra Modi bis 2022 das urbane Indien revolutionieren. Wer die Opfer des Fortschritts sind, hat New Internationalist-Autorin Nimisha Jaiswal in der Stadt Bhubaneswar recherchiert.
Prashant Kumar Das sitzt vor seinem Haus und blickt ins Leere. Ein paar hundert Meter weiter steht eine Reihe grauer, unverputzter Apartmentblöcke, offensichtlich unbewohnt. Der 58-Jährige lebt in Bhubaneswar, der Hauptstadt des Bundesstaats Odisha, etwa 400 Kilometer südwestlich von Kolkata.
„Als sie uns hierher brachten, sagten sie, dass sie uns innerhalb von drei Monaten Betonhäuser geben würden“, erinnert er sich. Sein Haus besteht aus Wellblech, alten Ladenschildern und Weidengeflecht, davor hängt frisch gewaschene Wäsche an einer Leine. Rundherum stehen achtzig ähnliche Behausungen. „Das ist nun mehr als ein Jahr her, und wir haben nicht einmal Übergangshäuser zugewiesen bekommen.“
25 Jahre lang lebte Das in einem selbst gebauten Ziegelhaus in Venkateshwar, einem der ältesten Slums der Stadt. Dann, im Jänner 2016, drückte man der Familie von Das und 80 anderen umgerechnet 100 US-Dollar und einen Plastikbeutel für ihr Hab und Gut in die Hand und forderte sie auf, das Areal zu räumen. Die Stadtverwaltung brauchte den Grund für neue Bürogebäude. Man brachte sie zu einem ungenutzten Stück Land hinter dem Apartmentkomplex und forderte sie auf, sich provisorische Unterkünfte zu bauen – „für ein paar Monate“; dann würde man ihnen Übergangshäuser bereitstellen.
Vorzeigemodell? Venkateshwar befindet sich in einem Stadtteil, in dem die erste Phase des „Smart City“-Projekts von Bhubaneswar umgesetzt werden soll. Mit der „Smart Cities Mission“, einem der Steckenpferde des indischen Regierungschefs Narendra Modi, sollen ausgewählte Städte im ganzen Land in Vorzeigemodelle der technologischen Innovation und modernen Infrastrukturentwicklung verwandelt werden, alles unter den Fittichen des Ministeriums für urbane Entwicklung. 15 Mrd. Dollar sind dafür veranschlagt. Jede Smart City soll sich durch Wohnungen für alle, ein bedarfsgerechtes öffentliches Verkehrsnetz, „grüne“ Zonen, auf FußgängerInnen ausgelegte Straßen, verlässliche Infrastruktur inklusive Internetanbindung und eine bürgernahe Verwaltung auszeichnen.
2015 beteiligten sich 98 indische Städte an der „Smart City Challenge“ und reichten detaillierte Projektplanungen ein. 20 schafften es in die engere Wahl, aber Bhubaneswar gewann den Wettbewerb. Bis heute wird dieser Erfolg auf Plakatwänden überall in der Stadt gefeiert. Aber die 300.000 Menschen in den Slums der Millionenstadt sind alles andere als begeistert.
„Sie wollen hier eine neue Klasse etablieren, eine Stadt in der Stadt bauen“, wettert Suresh Panigrahi von der Odisha Basti Basinda Mahasangha, einer Organisation, die sich für die Rechte der Slumbevölkerung einsetzt. „Das Land werden sich wieder irgendwelche Geschäftemacher unter den Nagel reißen, unter dem Banner des Smart City-Projekts.“
Billige Arbeitskräfte willkommen. Wie andere Großstädte in Indien erlebte Bhubaneswar in den letzten zwanzig Jahren einen stetigen Zuzug aus dem ländlichen Raum. Die meisten kamen auf der Suche nach Arbeit hierher, auf der Flucht vor Armut und Schuldknechtschaft. Zu den Folgen gehörten illegale Landbesetzungen und ein chaotisches Wachstum informeller Siedlungen. Viele der Häuser in den Slums sind feste Ziegelbauten. Rechtstitel auf ihre Unterkünfte haben die Menschen jedoch keine, auch keine offizielle Genehmigung der Stadt. Für Strom und Wasser zapft man einfach die Hauptleitungen an.
Dennoch besteht zwischen der Stadt und ihren Slums eine symbiotische Beziehung. In den ältesten dieser Siedlungen wohnen noch immer die Familien, die das rasche Wachstum der Stadt erst ermöglichten – indem sie willkommene billige Arbeitskräfte für den Bau der Wohnviertel, der Bürotürme und der Eisenbahnlinien bereitstellten.
Man werde die Menschen in den Slums natürlich nicht einfach hängen lassen, versichert Krishan Kumar, Commissioner der Stadtverwaltung und auch Direktor des Smart City-Projekts von Bhubaneswar. (Die Verwaltung indischer Millionenstädte erfolgt durch „Municipal Corporations“, deren Geschäftsführer – „Commissioners“ – von der gewählten Stadtregierung ernannt werden; Anm. d. Red.)
Unbewohnt trotz Wohnungsknappheit: Die vertriebenen SlumbewohnerInnen warten auf die Zuteilung einer neuen Unterkunft.
„Es war uns klar, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit beantwortet werden müssen, denn dem Plan war ja vorgeworfen worden, ein Programm für die Eliten zu sein. Daher haben wir die Sanierung von Slums, Zentren für soziale Gerechtigkeit und erschwingliche Wohnungen in unseren Vorschlag integriert.“ Zwar bestehe die Hälfte der Bevölkerung im Smart City-Projektgebiet aus SlumbewohnerInnen, so Kumar, doch die Stadt habe sich darauf festgelegt, niemanden zu vertreiben. Der Plan inkludiert vier Wohnbauprojekte mit insgesamt 6.000 Häusern für 5.600 arme Familien. Der Beginn der Bauarbeiten war für September vorgesehen.
Bisher aber haben die Armen in Bhubaneswar kaum Grund, sich für das „Smart City“-Projekt zu begeistern. Großteils liegt das allerdings daran, dass sie keine Ahnung haben, was da eigentlich geplant ist. Das geht zumindest aus einer Befragung in fünf verschiedenen Slums hervor: Überall erklärten BewohnerInnen übereinstimmend, dass niemand von der Stadt vorbeigekommen wäre, um ihre Meinung zu dem Smart City-Projekt einzuholen oder sie darüber zu informieren, mit welchen Veränderungen sie zu rechnen hätten.
„Ballast“ SlumbewohnerInnen? Diese Kommunikationskluft zwischen der Stadtverwaltung und der Slumbevölkerung hat – zusammen mit der lautstarken Kritik von AktivistInnen jeder politischen Schattierung – bei den Armen in Bhubaneswar den Eindruck erweckt, dass die Stadt sie einfach los werden will, weil sie der geplanten raschen Entwicklung im Wege stehen.
„Gleich in der Nähe werden illegal Häuser gebaut, aber diese reichen Säcke schicken stattdessen dauernd Beamte von der Stadt zu uns und sagen ihnen, sie sollten zuerst einmal den Slum abreißen“, erzählt Govindchandra Pujari aus Sai Nath, einem der älteren Slums in Bhubaneswar. Von einem geplanten Abriss hätte man offiziell noch nichts gehört, heißt es in Sai Nath, wo man sich so leicht nichts gefallen lässt. Zweimal in zwei Monaten mussten Abrisstrupps unverrichteter Dinge wieder abziehen.
Smart City ist nicht das erste Slumsanierungsprojekt. In Bhubaneswar kennt man bereits frühere Pläne, die „Wohnungen für alle“ versprechen, etwa „Rajiv Awas Yojana“ (RAY), ein Programm der früheren Regierung. Unter diesem Programm wurden tausenden Häusern in Slums Nummern zugeteilt, um ein Verzeichnis der „permanenten“ BewohnerInnen erstellen zu können. Auch um dieses Recht wären sie betrogen worden, heißt es in Sai Nath: „Es gibt kein Verzeichnis von diesem Gebiet“, versichert Pujari. „Und wenn wir um Eigentumstitel ansuchen, schicken sie uns wieder weg.“
Nicht ganz ins offizielle Bild passt auch die Zwangsräumung in Venkatesh war. Commissioner Kumar windet sich etwas: Das hätte mit einer Slumsanierung im üblichen Sinne nichts zu tun gehabt; es hätte sich um eine „einzigartige Situation“ gehandelt, da man den Grund dringend benötigt hätte. 67 Familien mussten dazu „überredet“ werden, an einen „vorübergehenden Standort“ umzusiedeln, doch sie würden bald Übergangshäuser bekommen, wie Kumar beteuert.
Der Gedanke an sein zukünftiges Übergangshaus sorgt bei Prashant Kumar Das nicht unbedingt für Glücksgefühle. Mit rund 10 m Fläche und einem kleinen Fenster sind sie eher winzig, und dass man den Wohnraum offiziell nicht erweitern kann, ist nicht nach dem Geschmack der Begünstigten.
Herkulesaufgabe. Die Errichtung neuer Häuser für 300.000 Menschen ist jedenfalls eine gewaltige Aufgabe. „Wir gehen nach einem Stufenplan vor und wollen dieses Jahr mit 10.000 Häusern beginnen“, erklärt Kumar. „Wir versuchen, die meisten Häuser entweder vor Ort oder in unmittelbarer Nähe der ursprünglichen Slums zu bauen, damit wir das Leben der Bewohner nicht zu sehr durcheinander bringen.“
Jedenfalls könnte allein die Dokumentation der BewohnerInnen der Slums und die Überprüfung ihrer Ansprüche auf Sozialwohnungen Jahre dauern.
Im Büro von Anand Patnaik in der Stadtverwaltung füllen tausende lose Blätter die hohen Regale an den Wänden – die Ergebnisse der RAY-Erhebungen unter der früheren Regierung. „24 Slums sind vom Smart City-Plan betroffen“, erklärt Patnaik. „Es ist mir klar, dass diese Leute ihre Zweifel haben. Aber da gibt es nichts in diesen chaotischen Siedlungen, sie leben ohne jede Infrastruktur.“
Laut Patnaik befinden sich derzeit 3.660 Häuser in Bau, 120.000 aus dem RAY-Programm seien noch fertigzustellen und 902 Übergangshäuser würden „bald“ zugeteilt.
Mit Statistiken sind die Stadtverwaltung und das „Smart City“-Team rasch bei der Hand, und 80.000 Familien sind schnell in der Rechnung untergebracht. Aber wenn es um die Zuteilung der wenigen Häuser geht, die tatsächlich gebaut wurden, da haben die Behörden offensichtlich Probleme.
Nimisha Jaiswal ist freie Journalistin in Delhi und schreibt häufig für den New Internationalist.
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