Welche Facetten der indische Film heutzutage hat und welche gesellschaftlichen Rollen er spielt, darüber informiert Alexandra Schott.
Wer kennt sie nicht, die farbenfrohen glamourösen Tanzszenen aus Bollywood. Der indische Film ist allgemein als bunt, kitschig und romantisch verschrien. Er wird geliebt, gehasst und häufig „nur“ als exotisch verstanden – ungeachtet seiner sozio-politischen Schlagkraft und dem steten Wandel seiner cineastischen Erzählformen und Themen.
Die indische Filmindustrie gilt mit einer jährlichen Produktion von heute zum Teil über 1.500 Filmen bereits seit Jahrzehnten als die größte der Welt. Etwa 40 Prozent davon werden in der Sprache Hindi produziert.
Indien ist ein heterogenes Land – multireligiös, multiethnisch, multilingual – und hat viele regionale Kinos hervorgebracht, die in den jeweiligen Sprachregionen weitgehend das Angebot dominieren. Doch der kommerzielle Hindi-Film, besser bekannt als Bollywood, gilt als panindisches Phänomen. Neben den regionalen Kinos wird ihm ein zentraler Stellenwert als Plattform für kulturelle Debatten im öffentlichen Diskurs zugesprochen. Er kann somit als gesellschaftsformend angesehen werden.
Der anfangs negativ belegte Begriff „Bollywood“, zusammengesetzt aus Bombay (seit 1996 offiziell Mumbai) und Hollywood, wurde von der englischsprachigen Presse Indiens in den 1970er Jahren eingeführt. Bis heute hat er sich zu einem generischen Begriff entwickelt, der global Verwendung für den indischen (populären) Film findet.
Filme für die Nation. Da Film eine große und heterogene Bevölkerung erreichen kann, trägt dieser dazu bei, bestimmte Werte und Symbole zu (re)produzieren und einzuschreiben. So verwundert es nicht, dass der indische Oberste Gerichtshof im November 2016 entschied, dass die Nationalhymne, die über Jahrzehnte meist nur nach dem Filmabspann gespielt wurde, vor dem Film abgespielt werde müsse – um mehr nationalen Stolz und Patriotismus in der indischen Gesellschaft zu verankern.
Die Flagge erscheint auf der Leinwand, und das Publikum ist dazu angehalten, auf- und stillzustehen.
Dies spiegelt nicht nur die rechtskonservative politische Entwicklung in Indien wieder (vgl. Artikel Seite S. 24), sondern provozierte bereits verbale und tätliche Übergriffe auf jene, die dem nicht nachkamen – was wiederum mediale Diskussionen nach sich zog. Dieser Trend bettet sich nahtlos in die heutigen globalen, heiß ausgefochtenen gesellschaftspolitischen Diskurse ein, die eine als begrenzt erfassbare nationale Zugehörigkeit propagieren – und andere Gruppen oder Andershandelnde ausschließen.
Tabu-Brecher. Doch es gibt auch einen optimistischeren Trend der vergangenen Jahre, der möglicherweise dem verbreiteten Bild einer homogenen „hinduistischen“ Gesellschaft auch im kommerziellen Film entgegenwirken könnte. Dies ist der erstarkende Einfluss des sogenannten Independent Cinema, das zunehmend ohne moralischen Zeigefinger problematische (Tabu-)Themen aufgreift.
Dazu zählen unter anderem Diskriminierung, Kinderverschleppung, Gewalt gegen Frauen oder Analphabetismus. Als Repräsentant Indiens wurde für den Oscar 2002 noch das romantische Historiendrama aus Bollywood „Lagaan – Es war einmal in Indien“ nominiert (welches neben „Einheit in Vielfalt“ auch Kricket als eigentlich „original“ indisch zurücktradiert). 2015 dagegen wurde „Court“, ein regionalsprachiger Art House Film aus Mumbai ins Rennen geschickt, der staatliche Willkür und Meinungsfreiheit zum Thema hat, es aber nicht bis zur Nominierung schaffte.
Auch im populären Kino ist ein zarter Wandel der Erzählästhetik zu beobachten, nämlich die eines Autorenkinos, das ohne Tanzeinlagen auskommt. Gleichsam gibt es eine Hinwendung zu einer realistischeren und kritischeren Aufbereitung von zum Teil sensiblen gesellschaftlichen Themen, wie Krankheit im Alter oder Empowerment von Frauen.
Neue Stars und Produzenten, die zumeist nicht den traditionellen Film-Clans entstammen und mittlerweile auch im kommerziellen Kino mehr und mehr zu sehen sind, könnten mit ihren individuellen Biographien hier ebenso neue Denkanstöße mitbringen. Darunter findet man homosexuelle Produzenten, aber auch Schauspielerinnen, die bereit sind, tendenziell rufschädigende Vergewaltigungsszenen zu spielen. Die wachsende Popularität dieser Filme, primär in den städtischen Kinos, spricht für sich.
Der ursprünglich längere Artikel musste für das Dossier gekürzt werden.
Alexandra Schott arbeitete am Südasien-Institut in Heidelberg und lehrte später an der Humboldt-Universität in Berlin, wo sie auch zu Filmfestivals in Indien forschte. 2015 war sie Programmleiterin des Indischen Filmfestivals Stuttgart und ist derzeit für Filmverleiher und Festivals in Berlin tätig.
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