In Venezuela galt Armut unter Hugo Chávez offiziell als überwunden. Für viele ist heute der Kampf um die täglichen Mahlzeiten nötiger denn je, wie die Geschichte von Virginia Rivas zeigt. Hanna Silbermayr berichtet aus Caracas.
Vor dem Obst- und Gemüsemarkt von Chacao, einem Finanz- und Geschäftsbezirk in Caracas, liegt ein zwei Monate altes Baby in einem Einkaufswagen und schläft. Daneben sitzt seine Mutter, die 26-jährige Virginia Rivas. Sie spricht wahllos Leute an, die vollbepackt mit Einkaufstaschen aus dem Gemüsemarkt herauskommen. „Señora, haben Sie etwas Kleidung für mein Baby?“, fragt sie eine Frau. Oder, ob nicht irgendwer eine Banane für ihre größeren Kinder über hätte. Manchmal hat sie Glück und es bringt jemand etwa eine warme, mit Huhn gefüllte Teigtasche mit.
Während der Amtszeit des 2013 verstorbenen Ex-Präsidenten Hugo Chávez hatte man die Armut im Land stark reduziert. Die extreme Armut galt gar offiziell als überwunden.
Als extrem arm werden jene Menschen eingestuft, die nicht einmal genug Einkommen haben, um die grundlegendsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie zum Beispiel ausreichend zu essen zu haben.
Nur vier Jahre nach dem Tod von Chávez sieht die Situation ganz anders aus: Die offizielle Armutsrate laut Weltbank betrug 33,1 Prozent (2015), Tendenz steigend. Aktuelle Umfragen und Schätzungen von Wissenschaft und NGOs gehen von weit höheren Zahlen an Armen aus.
Prekäre Lage. Auch Virginia Rivas’ Geschichte, die zugleich die Geschichte vieler anderer ist, zeigt die dramatische Lage. Dreimal die Woche kommt Rivas nach Caracas. Von ihrem Zuhause, einem Slum in der Nähe der Stadt Ocumare del Tuy im Bundesstaat Miranda, bis in die Hauptstadt sind es über 80 Kilometer. Zweieinhalb Stunden ist sie dafür per Bus, Zug und zu Fuß unterwegs. Doch es ist die einzige Möglichkeit, um ihren fünf Kindern ein Abendessen zu organisieren – die einzige Mahlzeit, die sie am Tag bekommen.
Die politische Lage in Venezuela ist derzeit ausgesprochen bewegt. Bei Protesten gegen Staatschef Nicolás Maduro starben seit April mehr als 120 Menschen. In Folge der Einsetzung einer Verfassunggebenden Versammlung mit 545 überwiegend den regierenden Sozialisten nahestehenden Delegierten hat sich die Lage nochmals deutlich verschärft.
Ein monatlich erscheinendes Medium wie das Südwind-Magazin steht bei solchen politischen Entwicklungen vor der Herausforderung, trotz allem möglichst aktuell zu berichten – mit der Gefahr, dass nach Redaktionsschluss plötzlich vieles wieder anders ist.
Auch daher fokussiert unsere Berichterstattung auf unterschiedliche Aspekte: Hanna Silbermayr gibt direkt aus Caracas Einblick, wie sich der Alltag sozial Benachteiligter gestaltet (in diesem Beitrag), und wie Menschen für andere ihr Leben riskieren (siehe "Wir helfen jedem"). Zudem liefert Lateinamerika-Experte Jürgen Kreuzroither Hintergründe zu den politischen Spannungen (siehe Brandgefahr"). red
In neueren Umfragen gaben über 30 Prozent der VenezolanerInnen an, nicht mehr als zwei Mahlzeiten pro Tag zu sich zu nehmen. In neun von zehn Haushalten reicht außerdem das Einkommen nicht aus, um ausreichend Lebensmittel einzukaufen. Genauso ergeht es Rivas und ihrer Familie. Manchmal begleiten die zwei größeren Kinder sie nach Caracas, das Baby ist immer mit dabei. Gemeinsam ziehen sie durch die Straßen und fragen in Stehcafés, Bäckereien und Restaurants, ob ihnen jemand etwas zum Essen abgeben will. In die Schule gehen das zehnjährige Mädchen und der sechsjährige Bub schon länger nicht mehr. „Ich kann ihnen keine Schul–uniform kaufen, dafür reicht das Geld einfach nicht“, sagt Rivas.
Schon immer gehörte sie zur unteren Gesellschaftsschicht. Schon immer lebte sie im Armenviertel und schon immer war ihre soziale Lage prekär. „Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie“, sagt sie.
Seit drei Jahren schlittert Venezuela immer tiefer in eine zu großen Teilen hausgemachte, teils den fallenden Erdölpreisen geschuldete Wirtschaftskrise. Die Inflation klettert Prognosen des Internationalen Währungsfonds zufolge bis Ende 2017 auf satte 1.642 Prozent. Für 2018 sagt der IWF eine Teuerungsrate von mehr als 2.000 Prozent voraus – die höchste weltweit. Zugleich kommt es in dem südamerikanischen Land zu Versorgungsengpässen bei Lebensmitteln und Medikamenten. Diese katastrophale Situation bekommen vor allem Menschen wie Virginia Rivas zu spüren.
Grundnahrungsmittel sind inzwischen so teuer, dass sie sich diese gar nicht mehr leisten kann. Zwar werden die Preise dieser Produkte vom Staat reguliert und sind theoretisch auch billig zu haben, doch kaum ein Supermarkt verkauft sie noch. Und dort, wo es sie gibt, muss man stundenlang Schlange stehen, um letztendlich mit zwei Packungen Maismehl oder einer Flasche Speiseöl in der Hand aus dem Laden zu kommen. Das reicht nicht, um fünf hungrige Mäuler zu stopfen.
Rivas muss zusehen, wo sie sonst noch Grundnahrungsmittel herbekommt. „Wir kaufen Reis, der eigentlich zur Fütterung von Nutztieren gedacht ist“, erzählt sie. Manchmal kann sie auch jemandem etwas billig abkaufen oder mit jemandem tauschen, doch mit jedem Zwischenhändler steigt der Preis. Auch im Markt von Chacao werden diese Lebensmittel verkauft – manches ganz legal und manches geht mitunter um ein Zehnfaches des regulierten Preises über den Ladentisch. Alles viel zu teuer für Rivas. „Ich musste auch schon im Müll nach Essbarem suchen“, sagt sie. Die junge Mutter wollte einfach nur ihre Kinder satt bekommen. Von dem Essen aus dem Müll hätten sie zwar Bauchweh bekommen, doch man gewöhne sich an fast alles, meint sie.
Versprechen für Arme. Die sozialistische Regierung hat immer versprochen, sich für die ärmeren Bevölkerungsschichten einzusetzen. Unter Hugo Chávez wurden Hilfsprogramme, sogenannte Misiones, eingeführt. So stellt die Misión Barrio Adentro zum Beispiel eine kostenlose Gesundheitsversorgung in den Armenvierteln bereit, über die Misión Mercal sollten subventionierte Grundnahrungsmittel verkauft werden und über die Misión Casa Bien Equipada konnten die VenezolanerInnen billige Elektrogeräte aus chinesischer Produktion erstehen. Auch Sozialbauten wurden errichtet.
Von all dem hatte Rivas nur wenig oder nie etwas gesehen. Viele der Sozialprojekte, die vor allem um die Jahrtausendwende gestartet wurden, verliefen im Sand und existieren heute nicht mehr. Laut der venezolanischen Medizinervereinigung FMV sind heute 80 Prozent aller Gesundheitseinrichtungen der Misión Barrio Adentro geschlossen. Andere stecken tief im Korruptionssumpf.
Auch Chávez‘ Nachfolger Nicolás Maduro versuchte sich in Sozialprojekten. Angesichts der sich verschärfenden Krise, für die er gerne die venezolanische Opposition, private Unternehmen, kolumbianische Paramilitärs oder die USA verantwortlich macht, rief der Präsident im April 2016 ein neues Verteilungssystem für Lebensmittel und Güter des täglichen Bedarfs ins Leben. Wer es sich leisten kann und sich anmeldet, bekommt von den sogenannten „Lokalkommitees zur Versorgung und Produktion“ alle zwei Monate Lebensmittelboxen an die Haustüre geliefert. „Das dauert oft ewig, bis wir diese Boxen erhalten, manchmal kommen sie gar nicht“, sagt Rivas.
15.000 Bolivares, umgerechnet je nach Wechselkurs zwischen einem und vier–ein–halb Euro, kostet eine solche Kiste, den halben Tageslohn ihres Mannes. Darin enthalten: zwei Packungen Nudeln, ein Kilo Mehl, zwei Packungen Reis, ein Liter Speiseöl, ein Kilo Zucker, 800 Gramm Milchpulver, etwas Thunfisch, Mayonnaise und Ketchup. Das reicht nicht einmal, um eine siebenköpfige Familie eine Woche zu ernähren.
Doch es sind genau diese Lebensmittelkisten, mit denen sich die Menschen in den Armenvierteln von der Regierung kaufen ließen, glaubt Rivas. Sie wählten die Sozialisten, weil sie sich dadurch irgendwelche Vorteile erwarteten. Einmal kam Präsident Maduro immerhin ganz in der Nähe des Slums vorbei. Alle wären zur Straße gelaufen, um einen Blick auf ihn zu erhaschen oder ihm vielleicht die Hand zu schütteln.
Rivas blieb zuhause. Sie glaubt nicht, dass er die Krise lösen kann und ist sich sicher, dass alles, was er sagt, nur leere Versprechungen sind. Seit Maduro im Amt ist, wurde ihre Situation eigentlich nur schwieriger, sagt sie. Sie könne auch die Menschen verstehen, die seit Monaten gegen die Regierung auf die Straße gehen. Sie selbst protestiere nicht, zu gefährlich wäre es bei den Demonstrationen, die seit April über 130 Tote gefordert haben.
Ewiger Traum Sozialwohnung. Die Regierung habe nie wirklich etwas für die Armen getan, sagt Rivas. Die PolitikerInnen würden nicht einmal ihren Fuß in die Barrios setzen, wie die Armenviertel in Venezuela heißen. Nur Henrique Capriles, Gouverneur des Bundesstaates Miranda und Oppositionsführer des breiten heterogenen Wahlbündnisses MUD (Mesa de la Unidad Democrática), sei einmal vor den Präsidentschaftswahlen da gewesen und habe sich alles angesehen. Er versprach einen Kredit, um die Häuser zu verbessern und hielt sein Versprechen. Rivas konnte mit dem Geld eine feste Wand aus Ziegeln und ein Dach bauen. Doch bei den typischen Tropenstürmen bringt auch das nur wenig, und die Hütte steht regelmäßig unter Wasser. Der Boden ist aus Erde und es gibt weder einen Wasser- noch einen Gasanschluss.
Darum hat Rivas Schwester mit einem geliehenen Handy Fotos angefertigt. Schon nach der Geburt ihrer ersten Tochter vor zehn Jahren hatte sie um eine staatliche Sozialwohnung angesucht. Eine Antwort bekam sie nie. Jetzt hat sie sich mit den Fotos des aufgeweichten Erdbodens wieder zum Wohnungsamt aufgemacht. Dort teilte man ihr mit, dass sie mindestens das Dreifache des monatlichen Mindestlohnes vorweisen müsse, um Anspruch auf eine Sozialwohnung zu haben. Doch das verdient ihr Mann mit seinem irregulären Job als Kaffeeverkäufer auf der Straße nicht. Darum bleibt auch die Sozialwohnung für sie und ihre Familie ein weit entfernter Traum.
Virginia Rivas ist auf die Solidarität anderer angewiesen, wenn sie ihren Kindern ein besseres Leben bieten will, als sie es selbst hatte. Dabei hat sie auch Glück im Unglück. Vielleicht sind die Menschen durch die Krise ein bisschen solidarischer geworden, meint sie. Beim Markt von Chacao hat sie eine Frau kennengelernt, die ihr eine Thermoskanne besorgt hat, so dass auch sie Kaffee anbieten kann und nicht mehr betteln muss. Ab dem kommenden Semester will sie auch ihre Kinder wieder in die Schule schicken. Mit Unterstützung vom Staat rechnet sie nach den vielen Jahren der Misere aber nicht mehr.
Hanna Silbermayr arbeitet als freie Journalistin zu Lateinamerika und lebte bis August in Venezuela.
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