Vor 40 Jahren wurde das dänische „Bandim Health Project“ im bitterarmen Guinea-Bissau gegründet. Es steht für exzellente wissenschaftliche Forschung zu vielen Aspekten der Kindersterblichkeit in einem Hochrisikoland. Nach Kontroversen um Impfungen droht nun aber das überraschende Aus. Bert Ehgartner hat das Projekt besucht.
Um vier Uhr früh landet unsere Maschine im westafrikanischen Guinea Bissau. Wir sind die einzigen, die aussteigen, doch die Einreise zieht sich hin. Endlich erscheint Carlos, ein Mitarbeiter des Bandim Health Project (BHP), der uns aus der Fürsorge der Beamten befreit und ins Zentrum von Bissau fährt. Die Straße ist asphaltiert, eine der wenigen im ganzen Land. Sie führt vorbei an wichtigen Gebäuden, dem Präsidentenpalast, dem Justizpalast, der Zentralbank und einem Prunkhotel für Staatsgäste. „Jeder Neubau hier“, sagt Carlos, „ist das Produkt eines erfolgreichen Diebstahls.“ Anders seien hier größere Summen nicht zu erwirtschaften. „Derzeit ist die Regierung gerade dabei, die Fischereirechte vor der Küste an chinesische Investoren zu verkaufen.“
Eines der ärmsten Länder. So etwas wie Industrie existiert in der ehemaligen portugiesischen Kolonie, die seit 1973 unabhängig ist, nicht. 85 Prozent der Export-Erlöse stammen aus dem Verkauf von Cashew-Nüssen. Guinea-Bissau zählt zu den ärmsten Ländern der Erde. Die Lebenserwartung liegt mit knapp 49 Jahren an 217. Stelle der Weltrangliste. Die Einwanderungsrate liegt bei null, wenn nicht gerade Flüchtlinge aus Nachbarstaaten um ihr Leben laufen. Freiwillig wandert hier kaum jemand ein.
Eine Ausnahme bildet der dänische Medizin-Anthropologe Peter Aaby, der 1978 im Alter von 33 Jahren ins Land kam und bis heute blieb. Er gründete mit dänischen und schwedischen Fördermitteln das BHP. Erste Absicht war es, die Ursachen für die hohe Kindersterblichkeit zu erforschen und möglichst zu beseitigen.
Nach etwa zehn Kilometern Fahrt verlassen wir die Prachtstraße. Es geht ins Gewirr der Gassen des Bezirks Bandim. Jetzt um sieben Uhr morgens sind überall Menschen unterwegs, plaudern, lachen, bauen Marktstände auf. Dazwischen Hühner, Ziegen und viele Schweine.
Der größte Arbeitgeber. Mitten drin steht das Haus, in dem Peter Aaby lebt. Der 72-jährige ist offiziell schon im Ruhestand. Chefin des Projektes ist seine langjährige Mitarbeiterin und Lebensgefährtin Christine Benn. Rund 150 einheimische Ärzte, Krankenpfleger und Forschungs-Assistenten – Männer und Frauen – arbeiten für das BHP. Es ist damit einer der größten Arbeitgeber der Hauptstadt. „Das besondere an unserer Arbeit“, sagt Aaby, „ist Kontinuität. Die Kinder, die wir 1978 in unsere Studienprotokolle aufgenommen haben, sind heute Großeltern.“
Vorbeugung: Impfung
Laut WHO-Report 2016 verhindern Impfungen zwei bis drei Millionen Todesfälle pro Jahr. Die WHO geht davon aus, dass 1,5 Millionen weitere Erkrankungen bei besserer Durchimpfungsrate vermieden werden könnten. Diese stagniert seit einigen Jahren.
Impfungen gibt es gegen eine Reihe von Krankheiten, allen voran Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Masern, Hepatitis B, Mumps, Röteln, Polio, Rotavirus-Diarrhö, Pneumokokken-Infektionen.
Es gibt zwei Arten von Impfungen: solche mit lebenden Antigenen (Masern, Mumps, Röteln, Polio-Schluckimpfung, früher Pocken, Gelbfieber etc.) und solche mit abgetöteten Wirkstoffen (Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Pneumokokken etc.).
Der Globale Impf-Aktionsplan der WHO sieht vor, bis 2020 weltweit eine Durchimpfungsrate von 80 Prozent zu erreichen. Gleichzeitig soll die Forschung an Impfstoffen für weitere Krankheiten vorangetrieben werden.
Die Strategien der WHO bezüglich ihrer Impfprogramme lösen auch immer wieder Kontroversen aus. Gegen eine flächendeckende Durchimpfung der Bevölkerung wirken in armen Ländern mangelnde finanzielle Mittel und schlecht ausgebaute Gesundheitssysteme. Vor allem in schwer zu erreichenden ländlichen Gebieten, in Kriegs- und Krisenländern ist die Impfrate besonders niedrig. In industrialisierten Regionen zeigt sich Impfmüdigkeit oder Impfskepsis, wie an der aktuellen Diskussion um die Masernimpfung ersichtlich. red
(Quellen: www.who.int/immunization; Der Standard, 24.4.2017)
Jedes Haus im Bezirk bekam eine eigene Forschungsnummer über die Haustüre gepinselt. MitarbeiterInnen besuchen regelmäßig jede Familie, um Schwangerschaften, Geburten, Todesfälle und sonstige wichtige Ereignisse aufzuzeichnen. Aaby und sein Team veröffentlichten mehr als 700 Forschungsarbeiten in angesehenen Fachjournalen.
Dabei merkte Aaby rasch, dass viele vorgefasste „Fakten“ der westlichen Medizin nicht mit der Realität in Afrika übereinstimmen. „Es galt beispielsweise als erwiesen, dass Hunger und Fehl–er–näh–rung die wichtigsten Auslöser der hohen Kindersterblichkeit sind“, erzählt Aaby. „Wir haben gründlich gesucht. Doch wir fanden keinen Mangel.“ Fast alle Familien ernährten sich ausreichend und abwechslungsreich.
Das wirkliche Risiko. Nach zwei Jahren Recherche erkannten sie das wirkliche Risiko für die hohe Sterblichkeit: Crowding – die Überbelegung der Häuser und das Schlafen auf engem Raum. „Malaria, Durchfälle, Lungenentzündung“, sagt Aaby. „Das sind die Killerkrankheiten der Tropen. Und sie brechen vornehmlich in der Regenzeit aus, wenn alles hier in Nässe und Schlamm versinkt.“
Gefährdet waren jedoch nicht jene Kinder, die sich in der Schule oder beim Spielen ansteckten und die Krankheit mit nach Hause brachten, sondern ihre Geschwister: Jene, die gemeinsam mit ihnen in der Hängematte schliefen und während der Nacht, wenn die fiebernden Kinder ihre Viren und Bakterien aushusteten, eine enorm hohe Dosis dieser Keime abbekamen. Die Geschwister waren es dann, die starben.
HIV/Aids, Tuberkulose, Drogensucht, Vitamine, der Einfluss der Religion auf die Kindersterblichkeit: Es gibt kaum ein Thema, das Aaby und sein Team nicht beackerten. Und von Anfang an standen auch die Impfungen und ihre Auswirkungen im Fokus der Studien. Doch auch hier zeigte sich Erstaunliches. „Die Masernimpfung hatte derart positive Auswirkungen auf das Überleben, dass dies nicht durch die Vermeidung der Masern zu erklären war“, erzählt Aaby. „Sogar in Jahren ohne Masernwellen hatten die geimpften Kinder eine doppelt so hohe Chance, die Regenzeit zu überleben als ungeimpfte.“
Dieselbe Tendenz bemerkten sie bei anderen Lebendimpfungen, etwa gegen Tuberkulose oder Polio. Aabys Erklärung: Lebendimpfstoffe haben unspezifische positive Effekte auf das Immunsystem, so dass insgesamt Abwehrkräfte gestärkt werden. Bei Impfungen mit abgetöteten Wirkstoffen kehrte sich der Trend hingegen um, die Abwehrkräfte werden geschwächt. Erst kürzlich ist eine Arbeit von Aabys Team erschienen, die zeigt, dass die Einführung der Diph–the–rie-Tetanus-Keuchhusten-Impfung in Guinea-Bissau die Sterblichkeit von Kindern dramatisch erhöht hat.
Heftige Kontroversen. Diese „non specific effects“ der Impfungen stehen seit mehr als 15 Jahren im Zentrum heftiger Kontroversen. Um Aabys Resultate zu prüfen, finanzierte die WHO zahlreiche Studien in anderen Entwicklungsländern. Und während sich darin die positiven Effekte von Impfungen bestätigten, fanden sich keine Belege für die negativen. Bereits mehrfach erklärte das „Global Advisiory Committee on Vaccine Safety“ deshalb Aabys Resultate für irrelevant. Der wiederum kritisierte die Methoden der WHO-ForscherInnen. „Wenn Kinder sterben, so verbrennen die Mütter meist den Impfpass“, erzählt Aaby. „Diese verstorbenen Kinder wurden in vielen Studien als ‚ungeimpft’ deklariert, weil es ja keinen Impfpass gab – und das ist ein grober Fehler.“
Aaby forderte eine Neubewertung der Impfpolitik in Entwicklungsländern und die Durchführung kontrollierter Vergleichsstudien zwischen Geimpften und Ungeimpften. „Denn wenn wir so weiter machen wie bisher, sterben mehr Kinder an inaktivierten Impfstoffen als an den dadurch verhinderten Krankheiten.“ Er kritisiert die WHO auch heftig, weil zunehmend Lebendimpfungen eingestellt und ersetzt werden. Derzeit wird gerade die Polio-Schluckimpfung, die lebende Viren enthält, abgelöst. Die neuen Impfstoffe basieren auf abgetöteten Erregern.
Kürzlich stand die alle vier Jahre vorgesehene Evaluierung der wissenschaftlichen Tätigkeit des BHP durch den Förderungsgeber Dänemark an. Obwohl internationale ExpertInnen die Arbeiten als „exzellent“ bewerteten, kam die dänische Jury zu einem anderen Schluss: Die Förderung läuft mit Jahresende 2017 aus. Als negativ bewertet wurde vor allem die Konzentration des BHP auf Beobachtungsstudien, „die geringe Beweiskraft haben“. – „Das ist schon bitter, weil wir der WHO ja laufend Vergleichsstudien vorgeschlagen haben“, sagt Aaby. „Sie wurden bisher mit dem Argument abgelehnt, dass es ethisch nicht verantwortbar sei, den Kindern in der Kontrollgruppe Impfungen vorzuenthalten.“
Anstatt das 40-jährige Bestehen zu feiern, steht nun die schwierige Suche nach neuen Sponsoren an. „Die Chancen“, sagt Aaby, „stehen leider gar nicht gut.“
Unterdessen legte die WHO zu Jahresbeginn überraschend Pläne für Vergleichsstudien vor, um die positiven bzw. negativen Effekte der Impfungen während der nächsten fünf Jahre zu messen. Dies wird aber wohl nicht mehr in Guinea-Bissau erfolgen.
Bert Ehgartner ist Wissenschaftsjournalist, Buchautor und Dokumentarfilmer. Zuletzt erschien von ihm das Sachbuch „Die Hygienefalle“ (Ennsthaler 2016).
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