Im einstigen Fahrradkönigreich China haben Fahrräder keine Lampen. Johnny Erling ging der Sache auf den Grund.
Bühnenhumorist Hou Baolin ist in China unvergessen. „Nachtfahrt mit Licht“ nannte er seinen legendären Sketch zu einer Zeit, als es in Pekinger Gassen keine Beleuchtung und an den Fahrrädern keine Lichter gab. Hou verriet dem Publikum, er radle mit einem Lampion am Stock in der Hand. Zwar fingen manchmal seine Kleider Feuer: „Aber wenigstens wird es dann hell. Nicht nur mein Fahrrad leuchtet: Ich auch.“
Knapp 60 Jahre später sind die Straßen illuminiert. An den Fahrrädern fehlt weiter das Licht. Die LiebhaberInnen von Antik-Rädern, die sich jedes Wochenende auf dem Pekinger Trödelmarkt Panjiayuan treffen, wissen auch nicht warum. An ihren aus dem Ausland stammenden Uralt-Rädern, die Rost und Wirren eines Jahrhunderts überlebten, hängen Messing-Karbidlampen. Räder aber, die nach Gründung der Volksrepublik hergestellt wurden, kamen – außer die für den Export bestimmten – ohne Leuchten auf den Markt. Die Bevölkerung sei damals zu arm gewesen, behaupten die Sammler. Sie passen indes bei der Frage, warum es heute weiter lichtlos zugeht oder behaupten wenig überzeugend, dass Lampen verboten waren, um die Hauptstadt bei Luftangriffen total verdunkeln zu können.
Reich der Räder. Vor 30 Jahren galt China als Königreich des Fahrrads. Mit ohrenbetäubendem Geschelle kämpfte sich eine halbe Milliarde Fahrerinnen und Fahrer durch die Straßen. Klingeln waren ein Muss – im Gegensatz zum Licht. Ausnahmen finden sich etwa im „Hutong“-Museum, wo ein Prachtrad mit Dynamolampe steht. Fotos im Polizeimuseum zeigen Räder mit selbst gebastelten Ölfunzeln mit Windschutz am Lenker. 1955 starteten die Verkehrsbehörden eine kurzlebige Erziehungskampagne, um Fahrrad-Lampen zu popularisieren.
Die Modernisierung verhalf dem Rad zur Gangschaltung, schaffte die von 1991 bis 2004 nur in China kassierte Fahrradsteuer ab, brachte jedoch immer noch kein Licht. Der Siegeszug der Motorisierung mit bis heute in Peking zugelassenen 5,7 Millionen Pkw gefährdet die im Dunkeln Radelnden, die zudem immer weniger werden. Aus Fahrradwegen wurden Ersatzstraßen für Autos und Parkplätze. Nach einer Untersuchung der Verkehrsbehörden verstauben heute bei den PekingerInnen zuhause 13 Millionen Fahrräder. Weniger als jedes Zehnte wird noch benutzt.
Der Branchenverein Fahrrad zählt in China rund 370 Millionen Räder. 2013 wurden 82 Millionen Fahrräder neu hergestellt. Tendenz fallend. Mit einem Bestand von 200 Millionen sind die Elektroräder stark im Kommen. 2013 wurden 37 Millionen produziert, fünf Prozent mehr als 2012.
Johnny Erling arbeitet seit 17 Jahren als Korrespondent in Peking. Er ist Pkw-Besitzer, fährt in der City aber nur Rad. So entkommt er dem Dauerstau, ist auf Kurzstrecken doppelt so schnell und findet immer einen Parkplatz. Er liebt die Anonymität beim Radeln, da die meisten MitfahrerInnen wegen des Smogs vermummt sind.
Bunte Radwege. Die Stadt Peking setzt Maßnahmen für „mehr Rad“. Sie führte 2012 nach internationalem Vorbild das hochsubventionierte „Öffentliche Mietfahrrad“ ein. 40.000 Räder warten nun an 1.260 elektronischen Einstellständen darauf, mit Chipkarte ausgelöst zu werden. In zwei Stadtbezirken starteten Pilotversuche, Radwege rot zu markieren und für Autos zu sperren. „In zehn Jahren wird das Rad wieder zurück sein“, schrieb die „Beijing Ribao“ Ende Juli.
An alles ist dabei gedacht, nur nicht an Lampen. Selbst an den Leihrädern hängen keine. Der Grund: Bis heute zwingt der Staat weder Hersteller zur Installation noch FahrerInnen, mit Lichtern zu fahren. Daher tun sie es auch nicht.
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