Mut, Ausdauer und ein tiefes Verständnis von Recht und Unrecht – das, sagt Aruna Roy, hätten sie die Frauen in Indiens Dörfern gelehrt. Anstatt sich auf ihre privilegierte Herkunft zu verlassen, kämpft die Aktivistin seit vielen Jahrzehnten für Gerechtigkeit, mit Erfolg. Ein Porträt von Brigitte Voykowitsch.
Seit 40 Jahren verbringt Aruna Roy die meiste Zeit in Dörfern, auf staubigen Straßen. Nicht die eigene Armut hat sie dorthin getrieben, sondern die Not von Millionen indischer Landbewohnerinnen und -bewohner. Wenn Aruna Roy – eine kleine, drahtige, inzwischen ergraute End-60erin mit großer Brille – von ihren Kämpfen erzählt, dann versprüht sie eine unglaubliche Energie und Begeisterung. Bis zu 40 Tage in Hitze und Staub auf einer indischen Landstraße zu demonstrieren ist für sie ein selbstverständlicher Teil wichtiger Kampagnen. Bei ihrem Besuch in Wien – auf Einladung der Frauensolidarität und des Instituts für die Wissenschaft vom Menschen – schildert Aruna Roy solche Sit-ins als wahre Feste der Solidarität, wo Menschen aus der Umgebung die Aktivistinnen und Aktivisten mit Wasser und Nahrung versorgen und intensive politische Debatten stattfinden.
Veränderung statt Privilegien. Dabei hätte Roy ein bequemes Leben in der indischen Hauptstadt Neu-Delhi führen können. Als Tochter einer südindischen Brahmanenfamilie gehörte sie sowohl einer sehr hohen Kaste als auch der Bildungselite des Landes an. Ihr Vater war im Staatsdienst in Neu-Delhi tätig, und so besuchte Aruna Roy eine ausgezeichnete Schule und dann ein renommiertes College, um ebenfalls in den IAS („Indian Administrative Service“) einzutreten. Der Staatsdienst hatte seit der Unabhängigkeit Indiens 1947 eine fast magische Sogwirkung auf Universitätsabsolventinnen und -absolventen, denn er garantierte eine lebenslange Anstellung mit Sozialversicherung, diversen Privilegien und Status.
Doch mehr als sechs Jahre hielt es Aruna Roy nicht im IAS aus. Sie wollte nicht Teil eines Systems bleiben, in dem sie vieles, was gegen ihre tiefsten inneren Überzeugungen lief, mittragen musste. Die Chance, dass sie je etwas von innerhalb des Systems würde verändern können, erschien ihr sehr gering.
1975 gab die damals 29-jährige Aruna Roy ihren Job beim IAS auf und schloss sich dem „Social Work and Research Centre” an, das ihr Mann, Bunker Roy, wenige Jahre zuvor in Tilonia im westlichen Bundesstaat Rajasthan gegründet hatte.
Gemeinsam mit Betroffenen kämpfen. Es war, wie sie selbst zugibt, eine völlig neue Welt für sie. Doch Aruna Roy ist überzeugt: Wer etwas verändern will, muss dies mit den Betroffenen tun, und das ist nur möglich, wenn man die Betroffenen kennt und versteht. Mit äußerster Skepsis betrachtet Aruna Roy daher viele NGOs, die von ihren Büros in den großen Städten aus etwas für die Menschen am Land tun wollen. Immer wieder betont sie, wie viel sie von Frauen aus Dörfern gelernt hat. Die konnten zumeist weder lesen noch schreiben, aber sie hatten Mut, Ausdauer und ein tiefes Verständnis von Recht und Unrecht.
Alles ständig zu hinterfragen, das gehört für Aruna Roy einfach dazu. Auch mit ihrem Mann hat sie unzählige Debatten und Streite ausgetragen, erzählt sie. „Heute sind wir beide in die Jahre gekommen, aber über essenzielle Fragen führen wir noch immer heftige Dispute.“ Zu diesen Fragen gehört die nach dem „richtigen“ Entwicklungsweg. Das „Social Work and Research Centre“, allgemein als „Barefoot College“ bekannt, konzentriert sich auf lebensnahe Bildung und Ausbildung für Dorfbewohnerinnen und -bewohner sowie auf lokale Projekte im Bereich Wasser, Energie und Infrastruktur. Aber genügt das, um das System zu verändern?
Aruna Roy wollte für eine Veränderung der staatlichen Strukturen sowie für neue Gesetze kämpfen. Mit zwei Gesinnungsgenossen zog sie 1987 in das Dorf Devdungri, um dort die Menschen gegen feudale Unterdrückung und Gewalt zu organisieren.
Recht auf Information. Aus diesem Kampf ging die von Roy mitbegründete Organisation Mazdoor Kisan Shakti Sangathan (MKSS, Vereinigung der Stärke von ArbeiterInnen und Bauern/Bäuerinnen) hervor. In der Folge ergab eines das andere. Das Ringen um Mindestlöhne machte klar: Man braucht mehr staatliche Transparenz. Die Kampagne für das Recht auf Information wurde dann eine der größten Bürgerrechtsbewegungen in Indien und einer der größten Erfolge in Aruna Roys Leben. 2005 erließ das indische Bundesparlament das Gesetz über das Recht auf Information (Right to Information, RTI).
Es könnte in Zukunft das Leben von Hunderten Millionen Inderinnen und Indern verändern, indem es etwa Korruption eindämmt. Ein Beispiel sind staatliche Arbeitsprogramme. Wenn Aktivistinnen und Aktivisten Informationen einfordern, zeigt sich häufig: Auf den Listen jener, die angeblich beschäftigt und bezahlt wurden, finden sich längst Verstorbene, Babys und diverse fiktive Namen. In manchen Dörfern werden auf Druck der Bevölkerung inzwischen die Beschäftigtenlisten auf eine für alle zugängliche Mauer geschrieben. Doch es gibt viel Widerstand – von der dörflichen bis hin zur Bundesebene. Für Aruna Roy gibt es da nur eines: weiter kämpfen.
Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin mit dem Schwerpunkt Südasien. Sie lebt in Wien.
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