Es ist Nacht. Wir stehen auf einer Dachterrasse am Rande von Fes. Nur vom Krankenhaus in der Nähe her kommt Licht. Auf der Straße fahren sporadisch Autos vorbei, Hunde bellen. Dann bleibt ein Bus stehen, obwohl es hier keine Station gibt. Eine Gruppe steigt aus. Es sind fünf Männer. Sie sehen erschöpft aus, bewegen sich aber zielgerichtet fort. „Es kommen fast jede Nacht Neue“, sagt der Freund, den ich hier besuche, ein Einheimischer. „Wohin gehen sie?“, frage ich. „Zum Bahnhof“, sagt er und nennt damit nur das unmittelbar nächste Ziel. Als die Männer vor unserem Haus sind, ruft er ihnen auf Englisch zu: „The train station is this way!“, „Der Bahnhof ist in diese Richtung!“
Wir werfen ein bisschen Geld hinunter. Das ist alles, was wir tun können. „Thank you“, ruft einer und greift nach den Münzen. Dann gehen sie weiter. Was bleibt, ist Stille. „Sie kommen aus Afrika und sind auf dem Weg nach Europa“, sagt mein Freund. Zwanzig Minuten später hält der nächste Bus und es steigen 15 Männer aus.
All die Berichte über die Menschen, die vor der Grenze der spanischen Enklaven Ceuta oder Melilla warten – warten auf einen Weg in ein neues Leben – nehmen hier Gestalt an. Wie die Reise der Männer, die uns an diesem Abend begegnet sind, weitergegangen ist, wissen wir nicht.
Ein paar Monate später ruft mich mein Freund aus Fes an. „Heute haben sich drei Männer am Baum beim Bahnhof erhängt“, sagt er. „Sie waren auf dem Weg Richtung Europa.“ Sie haben wohl keine Hoffnung mehr gesehen, dass sie es dorthin schaffen.
Lisa Rieger
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