Das „European Center for Constitutional and Human Rights“ (ECCHR) in Berlin ist eine der wichtigsten Adressen im Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen von Staaten und Unternehmen. Michael Krämer hat mit dem Generalsekretär und renommierten Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck gesprochen.
Vor drei Jahren starben in Pakistan 260 Menschen beim Brand der Textilfabrik Ali Enterprises. Mitte März hat das ECCHR im Namen von vier Überlebenden beim Landgericht Dortmund eine Klage gegen den Textildiscounter KiK eingereicht. Was hat KiK mit dem Brand zu tun?
Wolfgang Kaleck: KiK war der Hauptkunde der betroffenen Textilfabrik. Das Unternehmen hätte somit direkt Einfluss auf die dort herrschenden Arbeitsbedingungen und den Brandschutz nehmen können. Es wäre dazu im Rahmen seiner Sorgfaltspflichten auch verpflichtet gewesen. 260 Arbeiterinnen und Arbeiter sind verbrannt, weil die entsprechenden Sicherheitsvorschriften nicht eingehalten wurden, die Notausgänge blockiert und die Fenster vergittert waren.
KiK hat sich zwar bereit erklärt, freiwillig eine kleinere Summe als Entschädigungen zu zahlen, doch gleichzeitig betont, das Unternehmen selber treffe keine Schuld. Das ist falsch. Dieser Fall ist symptomatisch dafür, wie europäische Unternehmen ihre Verantwortung in Bezug auf die Arbeitsbedingungen entlang ihrer globalen Zulieferketten nicht wahrnehmen. Die Folge sind massive Menschenrechtsverletzungen für die arbeitenden Menschen im globalen Süden.
Die Betroffenen unterstreichen mit dieser Klage, dass sie Gerechtigkeit und keine Almosen wollen. Und wir weisen damit auf den direkten Zusammenhang zwischen den billigen T-Shirts in der KiK-Filiale um die Ecke und den Menschenrechtsverletzungen in Pakistan hin.
Gab es keine andere Möglichkeit, etwas für die Opfer der Katastrophe und die Hinterbliebenen zu erreichen?
Verschiedene Verfahren, inklusive eines Strafverfahrens gegen lokale Verantwortliche, sind vor pakistanischen Gerichten anhängig. Die Ausschöpfung des Rechtswegs in Pakistan und die lokale Organisierung der Betroffenen in der „Baldia Factory Fire Affectees Association“ sind fundamental, wenn sich für die dortigen Textilarbeiterinnen und -arbeiter etwas zum Positiven verändern soll. Gleichzeitig haben wir hier in Berlin das Know-how und die Ressourcen, um gemeinsam mit den Betroffenen die fatale Rolle von KiK als europäischem Unternehmen zu beleuchten und juristisch aufzuarbeiten.
Die Klage gegen KiK ist nur der jüngste Fall in einer ganzen Reihe, mit denen das ECCHR seit Jahren gegen Unternehmen vorgeht. In Argentinien sind Sie wegen Verbrechen während der Militärdiktatur unter anderem gegen Mercedes-Benz und den Agrarkonzern Ledesma aktiv.
Ein weiterer prominenter Fall ist die Anzeige gegen Nestlé wegen des Mordes an dem Gewerkschafter Luciano Romero, der in einem kolumbianischen Tochterunternehmen geschah. Was war die Begründung?
Wir haben vor drei Jahren in der Schweiz Strafanzeige gegen Nestlé eingereicht. Wir können nicht nachweisen, dass das Unternehmen in Kolumbien selbst Killer angeheuert hat, aber sie haben ihren Mitarbeiter nicht ausreichend geschützt. Immer wieder haben zivilgesellschaftliche Organisationen über die Verfolgung von Nestlé-Gewerkschaftern durch Paramilitärs in Kolumbien berichtet. Die Nestlé-Leitung in der Schweiz wusste, dass Luciano Romero bedroht wird und zwischenzeitlich sogar im Exil lebte.
Hätte Nestlé erklärt, wir machen keine Geschäfte mehr in Kolumbien, wenn unsere Gewerkschafter ermordet werden, dann wäre deren Verfolgung von einem Tag auf den anderen gestoppt worden. Nestlé hat aber nichts unternommen, und auch deswegen ist Luciano Romero im September 2005 gestorben. Darum haben wir gemeinsam mit Romeros kolumbianischer Gewerkschaft Sinaltrainal eine Strafanzeige auf der Basis von Strafbarkeit durch Unterlassen eingereicht.
Wie ist der Stand der Dinge bei dieser Klage?
Die Anzeige gegen Nestlé war die erste Klage dieser Art in der Schweiz. Zunächst war es sehr schwer, in der Gesellschaft, aber auch bei Juristen und Nichtregierungsorganisationen Verständnis dafür zu gewinnen, dass ein Schweizer Unternehmen dafür verantwortlich ist, Gewerkschafter in seinen kolumbianischen Tochterunternehmen vor Repression zu schützen. Wir haben durch dieses Strafverfahren wichtige Diskussionen über Unternehmensverantwortung angestoßen, doch juristisch haben wir keinen Erfolg gehabt. Die Strafverfolgungsbehörden beharren darauf, dass das Vergehen verjährt sei. Auch zehn Jahre nach dem Mord an Luciano Romero ist dieser weder in Kolumbien, noch in der Schweiz, noch beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), wo wir den Fall auch vorgebracht haben, jemals richtig untersucht worden. Das Gleiche gilt für die Verantwortlichkeit von Nestlé für dieses Verbrechen.
Das ECCHR stellt auch immer wieder Strafanzeigen gegen Regierungsmitglieder und staatliche Institutionen. Zum Beispiel in Deutschland gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld oder den ehemaligen CIA-Chef George Tenet wegen Folter im Irak und in Guantanamo. Was bringen diese Anzeigen?
In Deutschland gibt es seit 2002 das Völkerstrafgesetzbuch, das internationale Straftaten wie Folter und Kriegsverbrechen in Deutschland strafbar macht, auch wenn diese im Ausland begangen wurden. Doch zunächst gab es keine spezialisierte Ermittlungseinheit bei der Bundesanwaltschaft und es fehlte jegliche Erfahrung, was man mit diesem Gesetz machen könnte. Inzwischen gibt es eine eigene, sehr aktive Abteilung.
Allerdings ist es in Deutschland noch immer etwas Besonderes, strafbare Handlungen des Verbündeten USA zu überprüfen. Im Dezember 2014 hat die Bundesanwaltschaft immerhin angekündigt, dass sie ein Vorermittlungsverfahren wegen des US-Folterprogramms einleitet.
Haben diese neuen Untersuchungen mit den Erkenntnissen aus dem kürzlich veröffentlichten Folterreport des US-Senats zu tun?
Auch. Die Bundesanwaltschaft hat für sich angenommen, dass das Völkerstrafgesetzbuch bestimmte Verpflichtungen mit sich bringt: Deutschland kann nicht alle Straftaten der Welt ermitteln. Wenn es aber Verbindungen zu Deutschland gibt, etwa weil sich ein Beschuldigter in Deutschland aufhält, müssen wir genauer hinsehen.
Die Bundesanwaltschaft hat sich in den letzten Jahren mit mutmaßlichen Völkerstraftaten in vielen Ländern beschäftigt. Wie weit das gehen kann, wird sich zeigen. Wir sind realistisch, aber wir treten auch immer wieder an, um die Realität zum Besseren zu verändern.
Als ich vor mehr als zehn Jahren mit dieser Arbeit angefangen habe, war nicht absehbar, dass Mitglieder des CIA, der schon in verschiedenste Verbrechen verwickelt war, eines Tages nicht mehr in bestimmte Regionen der Welt reisen würden, weil sie fürchten, dort juristisch belangt zu werden. Kürzlich hat aber ein Abteilungsleiter der CIA erklärt, es gebe mehrere hundert aktive und ehemalige CIA-Agenten, die genau deshalb nicht mehr nach Europa reisen.
Können Sie Fortschritte bei der juristischen Verfolgung von staatlichen Menschenrechtsverletzungen feststellen?
Wir versuchen, den Preis für Menschenrechtsverletzungen vor allem für westliche Akteure möglichst hoch zu treiben. Nach dem 11. September 2001 sind zuerst US-amerikanische und später auch europäische Menschenrechtsorganisationen massiv juristisch gegen die Menschenrechtsverletzungen der USA im Zuge der Terrorismusbekämpfung vorgegangen. Diese Arbeit hat sicherlich auch eine Rolle für die Entscheidung von Präsident Barack Obama gespielt, Folter zumindest offiziell aus der US-Politik zu verbannen.
Ist es in solchen Fällen wichtiger, was innerhalb eines Landes passiert oder dass Druck aus dem Ausland kommt?
Das bedingt sich gegenseitig, wie in Argentinien oder in Chile, wo wir im Zusammenhang mit der Strafverfolgung der Verbrechen während den Militärdiktaturen vom Videla- und vom Pinochet-Effekt sprechen. In Europa wurde in enger Zusammenarbeit mit Opferorganisationen durch entsprechende Strafverfahren etwas in Gang gesetzt, und das hat sich dann in eine bestimmte Bewegung in Argentinien oder in Chile transformiert. Was wir machen, ist auch eine bestimmte Form von Kommunikation.
Und die ist erfolgreich?
Wer schnelle Erfolge haben will, muss etwas anderes machen. Unsere Arbeit ist langfristig angelegt – und genuin politisch, aber eben mit juristischen Mitteln. Wir müssen in kleinen Schritten denken und auch kleine Erfolge würdigen. Wichtig ist es anzufangen.
Wie haben Sie denn mit dieser Arbeit angefangen?
Das war Ende der 1990er Jahre, als Augusto Pinochet 1998 in London verhaftet wurde und sich durch den Aufbau des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) auch international etwas bewegt hat. Mit der „Koalition gegen Straflosigkeit“ haben wir mit einigem Erfolg versucht, die Fälle von Verschwundenen deutscher Herkunft während der argentinischen Militärdiktatur vor die deutsche Justiz zu bringen. Wegen der beiden nachweisbaren Morde an Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank sind internationale Haftbefehle ergangen und Deutschland hat die Auslieferung des ehemaligen Militärdiktators Jorge Videla und anderer Verantwortlicher gefordert. Diese wichtige erste Erfahrung trägt mich bis heute.
Im Sinne von: Da ist was möglich, da kann man etwas machen?
Menschenrechtsverletzungen werden nicht einfach so begangen, sondern sie werden verübt, um bestimmte ökonomische, politische oder militärische Ziele zu erreichen. Also muss auch die Menschenrechtsarbeit politisch agieren – was sie, nebenbei bemerkt, oft zu wenig tut.
Was meinen Sie damit?
Bei der Verfolgung von Verantwortlichen des US-Folterprogramms sieht man schnell, dass die Grundsatzfragen hier politisch sind und mit den bestehenden Machtverhältnissen zu tun haben: Es ist bewiesen, dass die US-Streitkräfte und der CIA systematisch gefoltert und damit internationale Straftaten begangen haben. Dass die Verantwortlichen dafür nicht vor Gericht gestellt werden, hat einzig mit deren Einfluss innerhalb der US-Gesellschaft und der globalen Machtposition der USA zu tun. Mit unserer Arbeit versuchen wir, die politischen Rahmenbedingungen zu ändern und Druck aufzubauen, um doch noch eine effektive Strafverfolgung zu erreichen – unsere juristische Arbeit ist hierbei Teil einer genuin politischen Strategie.
Sie sind einer der Verteidiger von Edward Snowden und haben viele Regierungen angezeigt. Sind Sie wegen Ihrer Arbeit schon einmal unter Druck gesetzt worden?
Nein. Die Probleme bekommen meist diejenigen, die mit uns arbeiten. Ob in Kolumbien, Argentinien, Mexiko, Indien oder den Philippinen, fast alle unsere lokalen Partner haben schon einmal Schwierigkeiten mit der Staatsgewalt gehabt.
Bei welchen Menschenrechtsverletzungen kann man mehr erreichen, bei denen von Staaten oder denen von Unternehmen?
Es gibt da eine zeitliche Verschiebung. In den Nürnberger Prozessen wurden sowohl staatliche Akteure als auch – in den Folgeprozessen – die Eliten der deutschen Gesellschaft, die Juristen, Ärzte und Industrieführer, vor Gericht gestellt. Als dann 40, 50 Jahre später mit dem Ausbau der internationalen Strafjustiz an das Vermächtnis von Nürnberg angeknüpft wurde, ging es zunächst vornehmlich um staatliche Akteure.
Auch die argentinische Menschenrechtsbewegung hat sich erst einmal auf die Militärs und deren Straflosigkeit konzentriert. Das war eine nachvollziehbare Entscheidung. Aber mittelfristig muss sich die Menschenrechtsbewegung auch um das Handeln von Unternehmen kümmern. Bei deren Verbrechen geht es nicht um irgendeine sadistische Brutalität der Protagonisten. Derartige Straftaten haben meistens politische und ökonomische Motivationen, und die sollte man ansprechen, wenn man versucht sie aufzuarbeiten.
Ein letzter Themenbereich: Europa schottet sich immer stärker ab, eine Folge sind Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen. Ist das ein Thema für das ECCHR?
Durchaus. Momentan sind wir gemeinsam mit spanischen Anwälten und Organisationen an einem Strafverfahren gegen die spanische Guardia Civil beteiligt. Diese schiebt in den Enklaven Ceuta und Melilla Flüchtlinge illegal und teilweise gewaltsam über die Grenze nach Marokko zurück. Es geht unter anderen um einen Vorgang vom 6. Februar 2014, als in Ceuta mindestens 15 Menschen bei dem Versuch, die Grenze schwimmend zu überwinden, mit Gummigeschossen und Tränengas von der Guardia Civil beschossen wurden und dabei ertrunken sind.
Das ist ein Verfahren vor der spanischen Justiz?
Ja. Wir wollen als europäischer Akteur zeigen, dass das ein gesamteuropäisches Problem ist und die Toten auch das Ergebnis einer verfehlten Flüchtlingspolitik sind, die maßgeblich von Deutschland aus bestimmt wird.
Das ist dann wiederum keine juristische, sondern eine politische Frage?
Und deshalb geht es uns darum, Verantwortlichkeiten festzustellen. Es befördert den politischen Prozess, wenn man diese Verantwortlichkeiten auch in juristischen Kategorien denkt. Es gibt aber noch einen anderen Grund: Wenn Gerichte entscheiden, dass bestimmte Praktiken illegal waren, bedeutet dies, so unsere Hoffnung, einen größeren Schutz für die Migranten von Morgen.
Michael Krämer ist Redakteur der entwicklungspolitischen Zeitschrift Südlink, die vierteljährlich in Berlin erscheint.
Wolfgang Kaleck, Jahrgang 1960, studierte Jus in Bonn. Er ist Anwalt mit den Tätigkeitsschwerpunkten europäisches und internationales Strafrecht, Wehr- und Kriegsdienstverweigerungsrecht sowie Menschenrechte.
Im Jahr 2007 gründete er gemeinsam mit international aktiven Anwältinnen und Anwälten das „European Center for Constitutional and Human Rights“ (ECCHR) in Berlin, dessen Generalsekretär er seitdem ist. www.ecchr.de
Für das Südwind-Magazin 12/2012 hat Wolfgang Kaleck einen ausführlichen Artikel zum Thema internationale Strafjustiz verfasst.
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