Ubuntu statt Psychoanalyse

Von Helmut Spitzer · · 2014/07

Sozialarbeit ist ein vom globalen Norden geprägtes Konzept – und daher in Afrika in lokalen Kontexten meist ungeeignet. Das Projekt PROSOWO treibt in Ostafrika die Indigenisierung und Professionalisierung des Berufsfeldes voran.

Theresa Mgaya ist eine Mama mkubwa, so wird im Swahili die Tante mütterlicherseits genannt. Sie hat im familiären System einen besonderen Status, trägt aber auch eine große Verantwortung. Zumeist ist sie es, die sich um verwaiste Kinder in der Familie kümmert. Das Straßenkinderprojekt Tuamoyo in der tansanischen Metropole Dar es Salaam baut auf diesem Ansatz auf. Im Gemeinwesen übernehmen einige Frauen symbolisch diese Rolle und fungieren als Ansprech- und Aufsichtspersonen für Waisenkinder. So soll verhindert werden, dass die Kinder und Jugendlichen auf der Straße landen. 

Theresa ist nicht nur privat eine Mama mkubwa, sondern engagiert sich auch beim Straßenkinderprojekt – ehrenamtlich und unter Anleitung von professionellen SozialarbeiterInnen. Diese begleiten die Frauen und versuchen, materielle und finanzielle Unterstützung auf die Beine zu stellen. Die SozialarbeiterInnen sind mit Familien, Schulen, lokalen HandwerkerInnen, Regierungsbehörden und der Polizei vernetzt. Ohne die freiwillige Arbeit der „Tanten“ würde das Projekt nicht funktionieren, da es zu wenige ausgebildete SozialarbeiterInnen gibt.

In der Ausbildung von SozialarbeiterInnen in Tansania spielt das Phänomen der Mama mbukwa trotzdem keine Rolle. Dafür die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds und europäische Wohlfahrtskonzepte.

An nahezu allen afrikanischen Ausbildungsstätten für Sozialarbeit dominierten lange Zeit Inhalte, die aus Europa und den USA importiert wurden, sich aber im jeweiligen Kulturkontext meist als unbrauchbar erwiesen haben. In den Industrieländern ist Sozialarbeit als eigenständiges Berufsbild und Ausbildungsfeld als Antwort auf die negativen Begleiterscheinungen von Industrialisierung, Verstädterung und damit verbundener Armut entstanden.

In Afrika sind die Strukturen in der Kolonialzeit entstanden. Nach der Dekolonisation setzte in den 1960er Jahren ein Prozess ein, Sozialarbeit als fixen Bestandteil von sozial- und wohlfahrtspolitischen Strategien in den afrikanischen Ländern zu etablieren. Und zwar als Teil internationaler Entwicklungshilfebemühungen und, in bester postkolonialer Manier, nach westlichem Vorbild.

Der Status quo wurde in den vergangenen Jahren zunehmend hinterfragt, insbesondere von der Pan-Afrikanischen Ausbildungsvereinigung für Soziale Arbeit ASSWA. Der Ruf nach einer Emanzipierung und „Indigenisierung“ von Sozialarbeit wird immer lauter. Denn es existieren bereits afrikanische Ansätze in der Praxis der Sozialarbeit, die sich in spezifischen Kontexten bewährt haben. Nur werden diese weder wissenschaftlich erforscht noch werden sie an den Ausbildungsstätten inhaltlich aufgegriffen. Ein weiteres Hindernis: Im akademischen Bereich in Afrika wird eigenes kulturelles Wissen nach wie vor tendenziell abgewertet und als unmodern interpretiert, während die Wissenselemente aus dem Westen oft kritiklos übernommen werden.

Hier setzt PROSOWO (Promotion of Professional Social Work in East Africa) an. Das vom österreichischen Programm APPEAR finanzierte Projekt vernetzt Hochschulen aus Kenia, Uganda, Ruanda, Tansania, Burundi und Österreich. Ausgehend von empirischer Forschung soll der Beitrag der Sozialarbeit zur Armutsbekämpfung und zur sozialen Entwicklung aufgezeigt werden. In den fünf afrikanischen Staaten sollen die Lehrpläne überarbeitet und der Berufsstand der SozialarbeiterInnen gefördert werden. Dazu gehört die Anschaffung von PC-Ausrüstungen und Literatur, die Veranstaltung von Workshops und Konferenzen sowie die Stärkung der nationalen Berufsverbände. Ziel des Projektes ist die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage, die die Sozialarbeit in den beteiligten Ländern klar regelt.

Theoretisches Rüstzeug für das Projekt ist „Social Development“ als Konzept für die Ausbildung in Sozialarbeit. Im Unterschied zu anderen kommt es selbst aus dem Süden: Dabei wird neben der Arbeit mit den Familien und Gemeinschaften vor allem der sozialpolitische Aspekt von Sozialarbeit betont. Damit ist gemeint, dass SozialarbeiterInnen auch bei der Planung und Umsetzung staatlicher Sozialleistungen und bei Maßnahmen zur sozialen Sicherheit eine maßgebliche Rolle spielen sollen. Social Development legt Wert auf psychosoziale Arbeit. Und auf die Deckung der Grundbedürfnisse der Menschen als Rechtsanspruch und nicht als Almosen. „Ein hungriger Bauch ist taub“, lautet ein Sprichwort in Burundi. SozialarbeiterInnen beschäftigen sich daher mit der Schaffung von Jobs und Einkommen genauso wie mit Fragen der Agrarproduktion, Nahrungsmittelbeschaffung und Wasserversorgung.

Die Nichtregierungsorganisation Centre Ubuntu setzt die Prinzipien sozialer Entwicklung durch gemeinwesen-orientierte Sozialarbeit in Burundi um. Im ostafrikanischen Staat sind die Auswirkungen des jahrzehntelangen Bürgerkriegs zwischen Hutu und Tutsi allgegenwärtig. Deswegen setzt Centre Ubuntu auf Sozialarbeit gekoppelt mit Maßnahmen zur Versöhnung zwischen Hutu und Tutsi sowie zwischen Ansässigen und RückkehrerInnen aus dem Exil. Verbesserungen im Gesundheitsbereich oder Wiederaufbauarbeiten an der zerstörten lokalen Infrastruktur werden von einem sensiblen, partizipativen Dialog begleitet. Der Dialog beruht auf dem afrikanischen Ethik-Kodex Ubuntu. Diese Lebensphilosophie betont gemeinschaftliches Miteinander, Respekt und Nächstenliebe. Die zentrale Aussage von Ubuntu lautet: Der Mensch wird nur zum Menschen durch andere Menschen.

In manchen Fällen klingt das in der Theorie einfacher als es ist: In Burundi sind etwa einhundert ausgebildete SozialarbeiterInnen unterwegs, um auf Basis der Ubuntu-Prinzipien und im Schulterschluss mit lokalen EntscheidungsträgerInnen partizipative Entwicklungsarbeit zu leisten. Dabei geht es auch darum, Frauenrechte zu stärken. Und das ist eine  Herausforderung: Die progressiven Ansätze der Sozialarbeit stoßen beim Thema Frauenrechte in Burundi auf patriarchale Gesellschaftsvorgaben, die die niedrige soziale Stellung der Frau einzementieren und sexuelle Gewalt gegen Frauen kulturell legitimieren.

Die SozialarbeiterInnen müssen daher mit viel Fingerspitzengefühl, profundem Wissen und einer reflektierten Haltung gegenüber der eigenen Rolle vorgehen. Bisher hatten sie dafür noch wenig Unterstützung: Die Regierung kümmert sich kaum um Gender-Gerechtigkeit. Und die burundischen SozialarbeiterInnen selbst sind noch nicht stark genug, auf politische Prozesse Einfluss zu nehmen und diese mitzugestalten.

Wie in Burundi steht auch in Kenia, Uganda, Ruanda und Tansania die Sozialarbeit in vielerlei Hinsicht noch am Anfang. Die Gesellschaft greift noch nicht entscheidend auf sie zurück. Doch es bewegt sich etwas. Das zeigte nicht zuletzt eine internationale Konferenz im Frühjahr in der ugandischen Hauptstadt Kampala anlässlich des Welttages der Sozialarbeit am 18. März 2014. Rund 500 regionale und internationale Delegierte aus den Bereichen Lehre, Praxis, Forschung und Sozialpolitik kamen zusammen. Um ein Zeichen zu setzen, wurde eine Demonstration auf den Straßen Kampalas initiiert, ein Marsch für mehr soziale Gerechtigkeit. Die Botschaft der lautstark Demonstrierenden: Sozialarbeit in Ostafrika hat ein immenses Potenzial, das darauf wartet, genutzt zu werden. Es bedarf vielleicht nicht immer des Einsatzes von Pauken und Trompeten, um darauf hinzuweisen. Derzeit kann das aber nicht schaden.

Helmut Spitzer ist Professor für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Kärnten und koordiniert seit 2010 das PROSOWO-Projekt. Projektwebsite: www.appear.at/prosowo

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