Vertrieben erst von der Flusserosion, dann von der Polizei. Gestresste Ökosysteme bringen Millionen Familien in eine verzweifelte Lage.
Als das Meer ihr Haus das dritte Mal weggeschwemmt hatte, zogen Abdul Motlab und seine Familie nach Dhaka. Das war vor zehn Jahren. Heute wohnen sie in einem offenen Verschlag, angebaut an die Hütte ihres ältesten Sohnes. Das notdürftige Heim liegt neben einem unfertigen Neubau, aus dem es ab und zu Bauschutt regnet. Ein über das Wellblechdach gespanntes Netz soll die Trümmer auffangen. Abdul und seine Frau Anoura gehen auf die 60 zu; mit ihnen leben noch fünf ihrer sieben Kinder sowie ein vier Monate altes Enkelkind.
Ihre prekäre Unterkunft auf einem ungenutzten Grundstück im Bezirk Mohamedpur ist zwar schmutzig, unsicher und im Monsun überschwemmungsgefährdet, gehört aber noch zu den besseren Plätzen, an denen sie in den letzten zehn Jahren wohnten.
„Die Leute in den Slums ließen es nicht zu, dass wir uns ein Haus bauten“, sagt Anoura. „Sie waren sehr brutal.“ Nachdem sie Monate auf der Straße verbracht hatten, konnten sie sich schließlich in einer vorübergehenden Siedlung eine kleine Hütte mit einem Jutedach bauen. Sie lebten in ständiger Angst vor der Zwangsräumung, zu der es dann auch kam, blitzartig und rücksichtslos. „Die Polizei ließ uns nicht einmal fertig essen.“
Die Motlabs leben vom täglichen Einkommen des ältesten Sohnes, umgerechnet 2,5 US-Dollar. Das reicht nicht für drei Mahlzeiten am Tag. „Wir hätten nicht gedacht, dass es so schlimm kommen würde“, sagt Abdul, mit Sorgenfalten im Gesicht. Die relative Ruhe, die sie hier genossen hatten, wird bald ein Ende finden. Der Eigentümer des Grundstücks will einen Appartmentblock errichten und hat sie aufgefordert, zu verschwinden. Allah werde einen neuen Platz für sie finden, meint Abdul resigniert.
Platz ist Mangelware in Dhaka, mittlerweile die am schnellsten wachsende Megacity der Welt. Zwischen 1990 und 2005 verdoppelte sich die Bevölkerung von sechs auf zwölf Millionen, vor kurzem waren es 16 Millionen, und jedes Jahr kommen 400.000 Menschen dazu. „Wo sollen die alle hin?“, fragt sich Bilkis Uddin, die in der Nähe der Motlabs lebt. „Man wird sie übereinander stapeln müssen – keinen Fuß mehr wird man neben den anderen bringen.“ Und dann, etwas besorgter: „Die Miete wird sich verdreifachen!“
Bilkis ist eine pragmatische, tatkräftige Frau, die sich eben darum kümmert, ihre kürzlich eingetroffene Schwägerin Monowara in das Stadtleben einzuführen. Monowara, ihr Mann und ihre vier Kinder zahlen monatlich 27 Dollar Miete für eine neun Quadratmeter große Wellblechhütte. Ein Leben auf so engem Raum belastet die Beziehungen, und es gibt oft Streitereien. Die Hütten braten im Sommer in der Sonne, dazu kommen die Stechmücken und die allgegenwärtigen Ratten. In der Siedlung teilen sich 60 Menschen eine Latrine und einen Wasserhahn. Ständig ist jemand krank, etwa die Hälfte der Kinder geht nicht zur Schule.
Monowara hat die Veränderung nicht gut verkraftet. „Hier zählt nur das Geld“, sagt sie mit leiser, monotoner Stimme. „Vorher hatte ich Enten, Hühner und Ziegen. Das Leben war relativ einfach. Nun müssen wir hart arbeiten, bloß um essen zu können.“
Monowaras Familie lebte ursprünglich in einem Dorf bei der Insel Bhola. Der Fluss vertrieb sie von dort, in zwei Etappen. Zuerst verloren sie ihr Land, und ihr Mann suchte sich eine Arbeit als Rikscha-Fahrer in einer nahegelegenen Stadt. Als der Fluss aber auch ihr Haus mitriss, hatten sie keine andere Wahl mehr: Sie mussten weg. Die umtriebige Bilkis verschaffte ihrem Bruder einen Job als Wächter, und Monowara verdient 19 Dollar monatlich als Hausgehilfin. Doch obwohl beide Eltern arbeiten, können sie es sich nicht leisten, ihre siebenjährige Tochter in die Schule zu schicken. „In Bhola gab es Ruhe und Frieden. Wenn ich dort von irgendetwas leben könnte, ginge ich sofort zurück“, sagt Monowara.
Sollte ihr das gelingen, würde sie quasi gegen den Strom schwimmen. Oxfam schätzt, dass die Erosion an den Flüssen und Küsten jedes Jahr die Lebensgrundlagen von 50.000 bis 200.000 Menschen zerstört und 60.000 Menschen zwingt, ihre Heimat zu verlassen. Bis 2050 werden schmelzende Gletscher und stärkere Monsunregen den Landverlust durch Flusserosion um 20 Prozent erhöhen.
Die Slums oder „bustees“, wo man die Motlabs partout nicht haben wollte, gibt es überall in Dhaka. So sieht die Zukunft des urbanen Lebens aus – mehr als ein Drittel der Menschen in Dhaka lebt in Elendsvierteln. Da es in den ländlichen Gebieten keine große Zukunft gibt, hält die Landflucht an. Heute leben 75% der Bevölkerung auf dem Land; 2050 wird Bangladesch urbanisiert sein. Die zunehmende Belastung der Ökosysteme durch den Klimawandel wird die Verstädterung noch beschleunigen, doch in punkto urbaner Infrastruktur fehlt es an allen Ecken und Enden. In Dhaka kommt der Verkehr häufig zum Stillstand, und der Stadt droht eine Krise bei der Trinkwasserversorgung.
Die Regierung hat sich bei der Armutsbekämpfung bisher auf die ländlichen Gebiete konzentriert und die Armen in den Städten vernachlässigt. Auch die NGOs neigen dazu, sich eher am Land zu engagieren. Die eingesessenen städtischen Eliten assoziieren die Neuankömmlinge mit einer Zunahme von Elend und Kriminalität und halten es für die beste Lösung, sie wieder zurückzuschicken.
Aber die Menschen werden weiter in die Städte ziehen, ob für sie Platz geschaffen wird oder nicht, und sich zwischen die Gebäude hineinquetschen wie die Motlabs und Uddins. Eine mögliche Lösung wäre, die Klimaflüchtlinge als „Binnenvertriebene“ anzuerkennen, mit dem Recht auf sanitäre Einrichtungen, Schulbildung und Gesundheitsversorgung.
Jedenfalls wird die Stadtplanung bei der Klimawandelanpassung eine höchst bedeutende Rolle spielen müssen. Denn nachdem die Erderwärmung Millionen verelendeter Menschen in die Städte gespült hat, wird Dhaka selbst an der Reihe sein. Die Metropole breitet sich völlig planlos in einem Überschwemmungsgebiet aus; 2070 wird Dhaka zu den vom Klimawandel am meisten gefährdeten Städten gehören, sagt die UNO.
Es braucht nur eine Stunde Regen, um Dhakas Straßen in Flüsse zu verwandeln. Zwar wird in Mittelschichtvierteln wie Dhanmondi eine Kanalisation gebaut, doch um die Slums kümmert man sich weniger, obwohl die Armenviertel in den gefährlichsten Gegenden liegen, etwa entlang der Flussläufe. Auf sich allein gestellt, haben die Menschen in den Slums ihre eigenen Anpassungstechniken entwickelt. In Korail, dem größten und ältesten Slum, beschatten sie ihre Dächer mit Kletterpflanzen und decken sich für Krisenzeiten mit Dingen ein, die sich leicht zu Geld machen lassen. Sie haben Sandsäcke, erhöhte Fundamente, und an den Ufern wird auf Stelzen gebaut.
Es gibt auch Menschen, die zurückgelassen werden. Die Dörfer im Südwesten des Landes entvölkern sich. Der Wirbelsturm Aila riss im Mai 2009 in der gesamten Küstenregion zahllose Äcker und Häuser mit sich und entzog Millionen dauerhaft die Lebensgrundlagen. Die Kinder im Bezirk Satkhira etwa begannen in den Monaten danach ihre Eltern zu verlieren, an die Bekleidungsfabriken und Rikscha-Flotten der Hauptstadt.
Satkhira grenzt an Indien. Viele suchen Arbeit in den boomenden Städten des Nachbarlands, wie bereits Millionen Bangladeschis vor ihnen. Aber mit den Umweltschäden werden es immer mehr. Steigt der Meeresspiegel bis 2050 um 30 Zentimeter, könnten zehn Prozent der Landesfläche unter Wasser stehen. Dort leben heute etwa so viele Menschen wie in den Niederlanden. Bei einem Anstieg um einen Meter verschwinden bis zu 20 Prozent des Landes – unwiederbringlich.
Niemand weiß das besser als Indien. Die Zuwanderung aus Bangladesch gilt als Problem der „nationalen Sicherheit“, und es wird alles getan, um den 4.000 km langen Stacheldrahtzaun an den Grenzen möglichst rasch fertigzustellen. Schlimmer noch: Indische Grenzsoldaten haben in den letzten zehn Jahren geschätzte 1.000 Menschen erschossen, darunter auch Minderjährige. In der Regel werden sie bezichtigt, Viehschmuggler oder Drogenhändler zu sein.
Bangladesch hat ein großes Problem. Zu viele Menschen leben an gefährlichen Plätzen – dem Klimawandel sei Dank. Die Regierung schätzt, dass bis 2050 acht Millionen Menschen durch den Klimawandel ihre Heimat verlieren werden. Die Städte, selbst alles andere als sicher, quellen über, und das Delta ist von schießwütigen Grenztruppen umzingelt. Reparationszahlungen für den Klimawandel sind nicht in Sicht. Wie wäre es also, wenn der Westen einfach seine Grenzen öffnete? Schließlich repräsentieren die Rücküberweisungen der ausgewanderten Bangladeschis bereits heute elf Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes.
Bangladesch hat auch dazu aufgerufen, Klimaflüchtlinge im Rahmen einer neuen UN-Flüchtlingskonvention anzuerkennen. Umweltorganisationen haben die Idee begrüßt, denn Flüchtlinge sind lebende Beweise für den Klimawandel. Der Migrationsexperte François Gemenne hat da gewisse Vorbehalte: „Die Kanarienvögel in den Kohlebergwerken wurden nie gerettet. Ihre Funktion bestand bloß darin, Alarm auszulösen.“ Und er macht sich Sorgen, dass eine plakative Argumentation wie „Jetzt handeln, sonst kommen die Flüchtlinge“ der extremen Rechten in die Hände spielen könnte.
AktivistInnen im Migrationsbereich schaudert es bei der Vorstellung, dass die Flüchtlingskonvention neu ausgehandelt werden könnte. Sie fürchten, die wenigen hart erkämpften Rechte könnten dabei verloren gehen. Stattdessen fordern sie eine Liberalisierung der Einwanderungspolitik. Migration ist auch das wahrscheinlichste Szenario: Die wenigen, die das überhaupt können, werden die bestehenden Korridore nutzen. Die Diaspora der Bangladeschis erstreckt sich über die ganze Welt. Wenn sie kommen, sollten wir sie mit offenen Armen empfangen.
Copyright New Internationalist
Berichte aus aller Welt: Lesen Sie das Südwind-Magazin in Print und Online!
Mit einem Förder-Abo finanzieren Sie den ermäßigten Abo-Tarif und ermöglichen so den Zugang zum Südwind-Magazin für mehr Menschen.
Jedes Förder-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.
Mit einem Solidaritäts-Abo unterstützen Sie unabhängigen Qualitätsjournalismus!
Jedes Soli-Abo ist automatisch ein Kombi-Abo.