Nichts wie weg

Von Redaktion · · 2016/09

Menschen fliehen in Scharen aus Eritrea, vor allem die jungen. Wie aus dem Staat, der erst 1993 unabhängig wurde, eine Diktatur wurde, berichtet Bettina Rühl.

Liest man dieser Tage Berichte von Reporterinnen und Reporter, die nach Eritrea reisten, dann haben die meisten eines gemeinsam: Sie beginnen mit der Verwunderung darüber, dass sich die eritreische Hauptstadt Asmara nicht als Vorhof der Hölle präsentiert. Stattdessen zeigt sie sich als freundliche, friedliche und überaus angenehme Stadt. Und zwar für alle Sinne: Das Klima in 2500 Metern Höhe ist demnach mild und mit Temperaturen meist um 25 Grad auch für Europäerinnen und Europäer gut verträglich, Kaffee und Essen in der ehemaligen italienischen Kolonie werden als vorzüglich beschrieben. Auch architektonisch hat Italien die Hauptstadt geprägt, Asmara ist ein Dorado des „Razionalismo“, der italienischen Version der klassischen Moderne.

Staunen herrscht aber auch darüber, dass die eritreische Regierung unter Präsident Isayas Afewerki in den vergangenen Monaten überhaupt so vielen Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt die Einreise nach Eritrea erlaubt hat. Jahrelang war das kleine Land am Roten Meer der internationalen Presse nahezu verschlossen.

Der Staat, der sich seine Unabhängigkeit von dem viel größeren Nachbarn Äthiopien in einem jahrzehntelangen Krieg erbittert erkämpfte und sie 1993 schließlich erhielt, gilt inzwischen als eines der repressivsten Regime des Kontinents.

In ihrem jüngsten Bericht über Eritrea schreiben die Vereinten Nationen, die Regierung habe „in den vergangenen 25 Jahren systematisch Menschenrechtsverbrechen begangen“. Schon ein Jahr früher hielten die UN fest: „Willkürliche Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit sind weit verbreitet.“ Und: „Tod im Gefängnis ist üblich. Gründe sind Misshandlungen, Folter, Hunger und die Verweigerung medizinischer Behandlung.“

Dabei galt das kleine Land wegen seiner progressiven Befreiungsbewegung (siehe auch Interview) einst als Hoffnungsträger für den afrikanischen Kontinent.

Nichts wie weg. Die Lage heute treibt Menschen in die Flucht. Laut den UN fliehen 5.000 pro Monat, bis zu einem Viertel der eritreischen Bevölkerung soll das Land schon verlassen haben. Bei den Bootstragödien auf dem Mittelmeer hat kein anderes afrikanisches Land so viele Opfer zu beklagen. Rund 70.000 Eritreerinnen und Eritreer haben 2014 und 2015 den Weg nach Europa geschafft. 90 Prozent der eritreischen Asylwerberinnen und Asylwerber werden in Europa anerkannt.

In dieser hohen Anerkennungsquote sieht Yemane Gebreab, Berater des eritreischen Präsidenten, den Hauptgrund für die Massenflucht – und nicht etwa in den repressiven Verhältnissen in seinem Land, wie sie die UN in ihren Berichten beschreiben.

Wegen der guten Aussicht auf Asyl gäben sich außerdem viele AfrikanerInnen fälschlich als EritreerInnen aus. „Es stimmt nicht, dass so viele Eritreer nach Europa fliehen, wie die Vereinten Nationen behaupten.“

Auch die übrigen Vorwürfe, die außer den Vereinten Nationen auch internationale Menschenrechtsorganisationen regelmäßig erheben, weisen Yemane Gebreab und Präsident Isayas Afewerki zurück.

Schmuggelt das Militär?

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen fliehen jeden Monat 5.000 Menschen aus Eritrea. Dabei werden die Grenzen streng überwacht. Nach Erkenntnissen der UN ist ausgerechnet der leitende General der Grenzkontrolleinheit, Teklai Kifle alias Tekle Manjus, für die Organisation des Menschenschmuggels verantwortlich. Die UN-Überwachungsgruppe für Somalia und Eritrea hat ihn mehrfach erwähnt, vor allem in ihrem Bericht von 2012. Demnach ist Manjus der Kopf eines Netzwerkes, das Menschen und Waffen schmuggelt.

Dem UN-Bericht zufolge setzte sein Netzwerk im Berichtszeitraum allein mit Waffen mindestens 3,6 Millionen US-Dollar im Jahr um. Yemane Gebreab, Berater des eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki, weist die Vorwürfe entschieden zurück. Gebreab zufolge könne es zwar hier und da ein paar Individuen geben, die sich am Schmuggel beteiligten. Das seien aber Einzelpersonen, die von der eritreischen Justiz hart verfolgt würden.   B.R.

KämpferInnen. Der Jurist und Agrarwissenschaftler Elias Habteselassie, heute Mitte 70, beobachtet die Entwicklung in seiner Heimat von außen, er lebt in der kenianischen Hauptstadt Nairobi. Habteselassie kämpfte jahrzehntelang für die Unabhängigkeit seines Landes. „Das bereue ich nicht“, betont er, „trotz aller späteren Enttäuschungen.“ Ende der 1950er Jahre war die Sehnsucht nach Unabhängigkeit von Äthiopien groß: Äthiopien war eine brutale Diktatur, zunächst unter Kaiser Haile Selassie, der 1930 bis 1936 bzw. von 1941 bis 1974 regierte, dann unter dem sozialistischen Militärmachthaber Mengistu Haile Mariam (1977 bis 1991).

„Schon als 18-jähriger Gymnasiast war ich von den Ideen der Eritreischen Volksbefreiungsfront (EPLF, Anm.) überzeugt und habe mich ihr angeschlossen“, erinnert sich Habteselassie. Allerdings kämpfte er nicht mit der Waffe, sondern an der politischen und diplomatischen Front.

Mit der Zeit entwickelte er ein widersprüchliches Verhältnis zu der Bewegung. Er störte sich an der strengen Parteidisziplin und an drakonischen Strafen. „Viele Kämpfer wurden zum Schweigen gebracht und getötet, weil sie zu viele Fragen gestellt hatten.“

Nach der Unabhängigkeit im Mai 1993 übernahm die EPLF, nun formal zu einer Partei namens „Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit“ gewandelt, die Macht. Der einstige Rebellenführer Afewerki wurde Präsident. Er ließ eine Verfassung ausarbeiten, aber die trat nie in Kraft.

Wenig später war Eritrea schon wieder im Krieg. 1997 überschritten äthiopische Truppen die gemeinsame Grenze und besetzten ein paar Flecken eritreischen Landes. Der Konflikt eskalierte ein Jahr später zu einem verlustreichen Stellungskrieg mit bis zu 300.000 Opfern. Zwar gibt es seit dem Sommer 2000 ein Waffenstillstandsabkommen, aber Äthiopien hat weiterhin einen kleinen Teil Eritreas besetzt – und das trotz eines UN-Beschlusses, wonach das umstrittene Grenzgebiet zu Eritrea gehört und von Äthiopien geräumt werden muss. Mitte Juni gab es erneute Gefechte an der gemeinsamen Grenze, über die Zahl der Toten gibt es keine gesicherten Angaben.

Krieg als Dauerzustand. Die erneuten Kämpfe haben Eritrea in dem Gefühl der Bedrohung einmal mehr bestätigt. „Weil der Krieg noch nicht zu Ende ist, müssen wir sehen, wie wir mit Äthiopien in dieser Sache weiterkommen“, sagt Präsidentenberater Gebreab.

Der Militärdienst für Männer und Frauen, der auf dem Papier nur 18 Monate dauert, ist faktisch unbegrenzt und umfasst, als Nationaldienst, auch zivile Tätigkeiten. Die lebenslange Pflicht zum militärischen und zivilen Dienst für den Staat gilt als ein zentrales Motiv jener jungen Menschen aus Eritrea, die ihr Land verlassen.

Einer, der aus Asmara nach Nairobi floh, schildert die Situation aus seiner Perspektive: „Ich hoffte, dass nach dem Krieg gegen Äthiopien endlich Frieden käme“, erzählt der Mann, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. „Dass die Regierung keinen Vorwand mehr hätte für den unbegrenzten Nationaldienst, für unbegrenzte Zwangsarbeit, Sondersteuern, die Abschaffung von Bewegungs- und Meinungsfreiheit. Dass wir endlich ein Mehrparteiensystem bekommen würden.“ Stattdessen sei es nach dem Waffenstillstand im Jahr 2000 sogar noch schlimmer geworden. „Die Militärs durchsuchten die Straßen und Häuser von Asmara ständig nach jungen Leuten, die sich gar nicht erst zum Militärdienst gemeldet hatten oder desertiert waren.“ PassantInnen wurden willkürlich angehalten und nach der schriftlichen Erlaubnis gefragt, sich in Asmara aufzuhalten. „Wer diese Erlaubnis nicht vorweisen konnte, wurde verhaftet.“

Im Kerker. „In der Haft schlagen sie dich und bringen dich in eine ehemalige US-amerikanische Militärbasis in Asmara, die noch aus Kaiser Haile Selassies Zeit stammt“, berichtet der Mann, der selbst in Eritrea nicht ins Gefängnis musste, aber viel von Betroffenen erfahren hat. „Dort gibt es viele unterirdische Zellen. Sie halten dich dort viele Monate lang fest, ohne ausreichend Nahrung, ohne jede Hygiene, ohne das Recht auf Kontakt zu deiner Familie.“ Die Angehörigen dürften den Gefangenen kein Essen oder Toilettenartikel bringen, nicht einmal eine Zahnbürste.

Neben dem Militärdienst im engeren Sinne müssen die Wehrpflichtigen auch Baumwolle pflücken, Getreide ernten, Häuser bauen. Oppositionelle und ausländische Beobachterinnen und Beobachter kritisieren. Der Gewinn der Plantagen, Bauunternehmen und anderer Betriebe fließe oft in die privaten Taschen von Generälen und Funktionären. Flüchtlinge berichten, sie hätten sich wie Sklaven gefühlt und keine Möglichkeit gehabt, eigene Perspektiven für ihr Leben zu entwickeln. Das habe sie erst in die Verzweiflung getrieben, dann in die Flucht. Den UN zu Folge könnte das Regime sogar hier mitschneiden und durch Menschenschmuggel Geschäfte machen (siehe Infokasten auf Seite 11).

EU-Hilfe. Die Europäische Union will den Massenexodus aus Eritrea stoppen, unter anderem, indem sie das Land finanziell unterstützt. 200 Millionen Euro wurden 2015 versprochen.

Gleichzeitig bestätigt die EU den repressiven Charakter des Regimes in Dokumenten und Einschätzungen der Lage. Für ihre Hilfe fordert sie Reformen, wie eine Verkürzung des Nationaldienstes auf die jetzt schon offiziellen 18 Monate und eine deutliche Erhöhung des Soldes – bislang betrug der umgerechnet nur zehn US-Dollar im Monat, schon viele Mieten kosten in Eritrea das Doppelte.

Präsidentenberater Gebreab versichert, der Nationaldienst sei bereits gekürzt und der Sold erhöht worden. Menschenrechtsgruppen und Oppositionelle bezweifeln das. Eine unabhängige Überprüfung vor Ort ist kaum möglich.

Elias Habteselassie sieht keine Hoffnung auf Veränderung – dafür hat er schon zu viel erlebt: „Ich habe Jahre in die Unabhängigkeit Eritreas investiert, mein ganzes Leben für dieses Land gegeben, Freunde verloren, die im Krieg für die Unabhängigkeit gefallen sind.“ Nach einer kurzen Pause ergänzt er: „Am Ende stellen wir fest, dass wir ein Monster geboren haben, das unsere Heimat mit eiserner Faust regiert. Das ist nach alledem eine wirklich bittere Pointe.“

Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin für Printmedien und Radio. Sie lebt in Nairobi.

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