Der unappetitliche Wahlzirkus

Von Klaus Hart · · 2002/10

Erstmals lagen in Brasilien bei einem Präsidentschaftswahlkampf zwei „Links“-Kandidaten vorne. Die Allianzenbildung dieser Kandidaten, darunter der legendäre Gewerkschaftsführer Lula, lassen jedoch Zweifel an ihrer politischen Haltung aufkommen. Aus São Paulo berichtet Klaus Hart.

Gleich nach den Jubelfeiern zum Fußball-WM-Sieg ging es los. Die Geld-und Politikeliten des größten lateinamerikanischen Landes heizten den absurdesten, unappetitlichsten Wahlkampf seit dem Ende der Militärdiktatur 1985 an. Denn im Oktober werden nicht nur ein neuer Staatschef, sondern auch die Gouverneure der 26 Teilstaaten und des Bundesdistrikts Brasilia, Abgeordnete und Senatoren per Pflichtwahl bestimmt. Das Establishment will Machtkontinuität.
PolitikexpertInnen und KolumnistInnen betonen, Brasiliens Wahl-Widersprüche seien in Europa schwerlich zu vermitteln. Man stelle sich etwa die Aufregung vor, wenn Österreichs Sozialdemokraten bundesweit mit Rechtsextremen koalieren, Wahlunterstützung gar bei übel beleumdeten neonazistischen Figuren suchen würden und sich die Grünen ebenfalls mit dem extrem-rechten Spektrum zusammenschlössen. Im brasilianischen Politikbetrieb sind derartige Konstellationen normal.
Als Markenzeichen des diesjährigen Wahlkampfs wurde bei Kandidaten und Parteiführern jedoch ein bislang nie da gewesener Zynismus ausgemacht. Erstmals bildet die unlängst noch linkssozialdemokratische Arbeiterpartei PT, größte Oppositionskraft gegen die Mitte-Rechts-Regierung und lange Zeit eherne Säule der Ethik und Unbestechlichkeit, keine Ausnahme mehr. Sie warf Grundprinzipien über Bord und verspielt deshalb Sympathien – gewinnt sie aber bei der bisherigen Gegenseite.

Der gemäß Septemberumfragen chancenreichste Präsidentschaftskandidat Luiz Inácio Lula da Silva von der PT tritt am 6. Oktober zu vierten Mal an und wird voraussichtlich auch in die Stichwahl am 20. Oktober gelangen. Er hätte nach dem Willen der Parteibasis den in allen politischen Lagern Brasiliens wegen seiner Kompetenz hochangesehenen Senator Eduardo Suplicy zum Vize bestimmen müssen. Stattdessen entschied sich die rechtssozialdemokratische Mehrheit der PT-Spitze – 43 von 70 Präsidiumsmitgliedern – ausgerechnet für den Milliardär Josè Alencar und eine Wahlallianz mit dessen Rechts-und Sektenpartei PL (Partido Liberal) – und somit auch gegen die von der Führung immer öfters überfahrene PT-Basis. Senator Alencar besitzt die größte Textil-Unternehmensgruppe Brasiliens, ist zudem Vize-Chef des nationalen Industriellenverbands, sieht den Militärputsch von 1964 positiv, hasst die Landlosenbewegung MST, tritt für den Abzug der Israelis aus Nahost (!) und eine Neugründung des Staates Israel anderswo auf der Welt ein.
Gerüchte über ein PT-PL-Bündnis galten anfangs als schlechter Witz. Immerhin unterstützt die PL im Teilstaat São Paulo, Lateinamerikas Industrielokomotive, den berüchtigten Diktaturaktivisten und rechten Gouverneurskandidaten Paulo Maluf, im Amazonas-Teilstaat Acre die Gang eines Todesschwadronen-Politikers, im nordöstlichen Alagoas Kandidaten gleicher Sorte, darunter den wegen Machtmissbrauchs und Korruption vom Kongress abgesetzten Ex-Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello.
Zur PL zählen Bataillone von Sekten-Bischöfen, Predigern und Wunderheilern, die Lula stets als Satan anprangerten. Jetzt betet er mit ihnen. Sekten besitzen in Brasilien viel Medienmacht, haben TV-und Radiosender mit hohen Einschaltquoten – ausgerechnet ihnen winkt via PL jetzt das Kommunikationsministerium. PT-Vorsitzender Josè Dirceu reiste zur Wall Street, war im Weißen Haus, um Banker und Spekulanten zu beruhigen, die seit Juni aus Furcht vor einer „linken“ Regierung bewährte Druckmittel auffuhren, Brasiliens Währung Real und den Börsenkurs absacken ließen, die Länderrisiko-Taxe auf Rekordhöhe schraubten.

Ex-Gewerkschaftsführer Lula verkündete der Nation einen schwer wiegenden Rückzieher nach dem anderen: Entgegen bisherigen Versprechen sollen die erdrückenden Auslandsschulden bei einem Wahlsieg doch weiterbezahlt und die fast durchwegs von Korruption und kriminellen Machenschaften begleiteten Privatisierungen strategischer Unternehmen nicht rückgängig gemacht werden. Banken und Unternehmerverbände, bisher erbitterte PT-Feinde, sehen keine Differenzen mehr: mit einem der ihren als Lulas Vize sollte nichts schief gehen.
Das PT-Regierungsprogramm ist von linken Argumentationen weitgehend gesäubert, will keinen Bruch mehr mit dem jetzigen ökonomischen Modell, verteidigt nur noch einen „humanisierten“ Kapitalismus.
Die Reaktionen auf den scharfen Kurswechsel der PT-Spitze um Lula und deren Anbiederung ans Kapital sind verheerend: Die Parteilinke, so sickerte durch, diskutiert den Austritt und die Gründung einer neuen Partei selbst für den Fall, dass Lula Staatschef wird. Der starke befreiungstheologische Flügel in der katholischen Kirche, die Basisgemeinden, bisher stets militant auf PT-Seite, sind entsetzt, gehen auf Distanz, nennen die Arbeiterpartei „bourgeois“. Außerdem hagelt es viel Spott: Schließlich kaufte Lula denselben gerissenen Wahlkampfmanager ein, der zuvor stets rechten Politikern wie São Paulos Industriellem Maluf mit nordamerikanischen PR-Methoden zum Sieg verholfen hatte. Der Parade-Linke gibt sich nunmehr bürgerlich, betont antiradikal („PT-light“) und kann sich dank seines milliardenschweren Vizes erstmals einen üppigen Wahlkampf leisten.
Der PT-Präsidentschaftskandidat nähert sich auch den konservativen Militärs an. Erstmals kann er sogar ausgerechnet dem berüchtigtsten Generalspräsidenten des Militärregimes, Emilio Garrastazu Medici, Positives abgewinnen: Zu dessen Amtszeit habe es einen Arbeitsplatz-Boom gegeben, seien große Wirtschaftsprojekte realisiert worden. Das erinnert fatal an rechte Argumentationen um Hitlers Autobahnbau. Und als sich Lula Ende August mit dem einstigen Erzgegner Josè Sarney verbündete – Chef der Diktaturpartei ARENA, Ex-Staatspräsident, heute einflussreicher Senator, dazu tonangebender Oligarch im archaischen, sogar noch von Sklaverei gezeichneten Nordost-Teilstaat Maranhão – nannten selbst bürgerliche Qualitätsblätter die politische Ethik der Arbeiterpartei nur noch „ultralight“.

Erschwerend kommt hinzu, dass die PT derzeit nicht nur im wirtschaftlich bedeutendsten Teilstaat São Paulo, sondern auch im zweitwichtigsten – Rio de Janeiro, mit einem größeren Bruttosozialprodukt als ganz Chile – wegen enttäuschender Sozialpolitik, Missmanagement und Skandalen stark an Ansehen verliert. Am Zuckerhut regiert die populistische PT-Gouverneurin Benedita da Silva, Mitglied einer Sektenkirche, vorhersehbar desaströs. Sie toleriert in den Slums die hochgerüsteten, global vernetzten Verbrechersyndikate und Banditenmilizen als neofeudale Parallelmacht, die zahlreiche Schulen schließt, Ausgangssperren verhängt, BewohnerInnen terrorisiert, Zehntausende Slumkinder rekrutiert und missliebige Großfamilien aus ihren Hütten vertreibt. BürgerrechtlerInnen, die sich dem Gangster-Diktat widersetzen, werden auch unter Benedita da Silva zur Abschreckung umgebracht. Für eine zweite Amtszeit hat Benedita da Silva gemäß den jüngsten Umfragen nicht die geringsten Wahlchancen.
Ähnlich steht es um den PT-Gouverneurskandidaten Josè Genuino in São Paulo – die Politik der amtierenden PT-Präfektin Marta Suplicy ist für ihn offenbar kontraproduktiv: Der früher als „progressiv“ geltenden Feministin, Therapeutin und Sexualexpertin wird vorgeworfen, vor allem zugunsten der hochprivilegierten Eliten, der „Classe A“, zu regieren. Diesen genehmigt sie im abgasverpesteten, lärmgeplagten São Paulo noch einen weiteren kommerziellen Hubschrauber-Airport, obwohl die Stadt bereits über mehr als 220 private Landeplätze verfügt.

Statt Lula hätten die Eliten indessen am liebsten Gesundheitsminister Josè Serra als Nachfolger von Staatschef Fernando Henrique Cardoso. Beide gehören zur eher konservativen Zentrumspartei PSDB (Sozialdemokratische Partei Brasiliens), nach der rechten PFL (Partei der Liberalen Front), mit der sie gemeinsam regiert, zweitstärkste im Nationalkongress. Gemäß den Septemberumfragen liegt Serra auf Platz zwei. Er wird von den Mitbewerbern natürlich für die überwiegend schlechte achtjährige Regierungsbilanz von Cardoso mitverantwortlich gemacht: Rekordarbeitslosigkeit, stetig sinkende Reallöhne, zunehmend ungerechtere Einkommensverteilung – deshalb vor allem die die letzten Jahre spürbare Verarmung. Neue Sozialprogramme verteilen lediglich Almosen: So erhalten verelendete Familien, deren gesamtes Monatseinkommen – bei annähernd europäischem Preisniveau – umgerechnet etwa dreißig Euro nicht übersteigt, pro Kopf eine monatliche Hilfe von rund sieben Euro.
Gemäß den Regierungsangaben werden inzwischen über zehn Millionen BrasilianerInnen „begünstigt“. In der immerhin zwölftgrößten Wirtschaftsnation der Welt hat von den etwa 170 Millionen EinwohnerInnen ein Drittel weniger als fünfzig Euro im Monat zum Leben – Bauarbeiter etwa verdienen pro Stunde maximal nur zwei Euro. Brasiliens Gesundheitssystem liegt auf Platz 125 der Weltrangliste, das Land auf Platz 74 des UN-Index für „menschliche Entwicklung“.
Nicht zufällig wirft deshalb die katholische Kirche den Eliten „anhaltende Sklavenhaltermentalität“ vor. Die von Korruptions-und Stimmenkauf-Skandalen begleitete Cardoso-Regierung geht als Rekordhalter bei der Regenwaldvernichtung in die Geschichte ein. Sie vervielfachte die Staatsverschuldung zur Freude der in-und ausländischen Geldinstitute – die dreißig größten Banken im Lande verdreifachten ihre Gewinne seit 1995.

Ein weiterer schillernder Kandidat ist Ciro Gomes, der ebenfalls ein bizarres, widersprüchliches Links-Rechts-Wahlbündnis anführt. Gomes begann seine politische Karriere in der Diktaturpartei PDS, wechselte dann nacheinander zu den Zentrumsparteien PMDB und PSDB – in letzterer ist Staatschef Cardoso – und gehört neuerdings zur PPS, der Nachfolgerin der Kommunistischen Partei Brasiliens. Bei Ciro Gomes fühlen sich traditionelle Oligarchien und deren zwielichtigste Figuren heimisch. Im archaischen Nordost-Teilstaat Alagoas unterstützt die PPS ausgerechnet den nach wie vor einflussreichen Ex-Präsidenten und jetzigen Gouverneurskandidaten Collor de Mello und hat landesweit die Arbeitspartei PDT des Linkspopulisten Leonel Brizola sowie die Rechtspartei PTB, Sammelbecken der Großgrundbesitzer, an ihrer Seite. „Solche widersprüchlichen Wahlabkommen sind menschlich und normal“, sagt der Präsidentschaftskandidat. Brasiliens größte Rechtspartei, die PFL, schloss sich ebenfalls Ciro Gomes an, hält indessen aber auch Türen zum Regierungskandidaten Josè Serra offen. Schließlich hat dieser zunehmend größere Chancen. Nach den Wahlen sind noch ganz andere Bündnisse möglich.

Zwar herrscht endlich relative Preisstabilität – doch wurden die letzten acht Jahre Mieten um etwa 380 Prozent, Kochgas um 470 Prozent, Strom um 220 Prozent, Bus und Metro um über 220 Prozent teurer; ähnliche Preissprünge gab es bei vielen Lebensmitteln. Weil Cardosos Geldpolitik – mit wachstumshemmenden Leitzinsen von über 18 Prozent jährlich – das Land außerordentlich anfällig für spekulative Attacken und Währungskrisen machte, musste Brasilia noch mitten im Wahlkampf vom Internationalen Währungsfonds einen Dreißig-Milliarden-Dollar-Kredit erbitten. Der ist an strenge Auflagen geknüpft, zwingt der künftigen Regierung für die nächsten drei Jahre einen harten Sparkurs auf. Etwa zwei Drittel der Exporteinnahmen schluckt allein der Schuldendienst.
Lula und Serra versprechen in ihren relativ ähnlichen, recht allgemein gehaltenen Programmen enorme Investitionen im Sozialbereich, um weit über acht Millionen Arbeitsplätze zu schaffen. Schon jetzt scheint festzustehen, dass dafür aber das Geld fehlt.
Auffällig ist, dass die PT derzeit das Thema Menschenrechte – wohl wegen eigener Versäumnisse etwa in Rio de Janeiro – fast völlig ausklammert. Dabei ist Cardosos Regierungsbilanz hier besonders verheerend: Die Sklavenarbeit nahm zu, Brasilien ist weiter ein Folterstaat. Vielerorts, ob in Amazonien oder in den Großstadtslums, herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Im Vorjahr wurden allein aus politischen und kriminellen Motiven – oft vermischt – über 43.000 Menschen umgebracht, in den acht Amtsjahren Cardosos über dreihunderttausend. Das ist, in absoluten Zahlen, viel mehr als in dem aktuellen Konfliktherd Kolumbien. Die Straflosigkeit ist sehr hoch – nicht einmal zehn Prozent der Täter werden zumindest ermittelt. Allein in São Paulo sind über eine Million Feuerwaffen illegal in Privathand. Die Mitte-Rechts-Regierung Cardosos, resümiert Brasiliens größte Qualitätszeitung „Folha de São Paulo“ in einem Septemberkommentar, „ist eine der Reichen für die Reichen und hat das Volk in acht Jahren verroht, brutalisiert“.

Klaus Hart ging 1986 als freier Korrespondent und Buchautor nach Brasilien und arbeitet in Săo Paulo für österreichische und deutsche Medien. Im Picus-Verlag Wien erschien von ihm zuletzt der Reportagenband „Unter dem Zuckerhut – Brasilianische Abgründe

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